blindness

Unsere Sinne – glauben wir nun, dass es fünf oder sechs sind – sehen wir «normalen» Menschen als selbstverständlich an. Wir spüren auf unserer Haut, ob etwas nass, kalt, trocken oder warm ist. Wir können mit unserer Nase angenehme und unangenehme Gerüche wahrnehmen. Mit unseren Ohren sind wir im Stande, Musik, Stimmen oder Geräusche zu hören. Unsere Zunge hilft uns, süsse von sauren, salzigen oder bitteren Geschmäckern zu unterscheiden. Und dann gibt es da noch unsere Augen, ohne die wir nicht fähig wären, Situationen oder Dinge visuell zu erfassen. Und gerade für uns MMP-Studenten ist dieser Sinn besonders wichtig. Ohne ihn könnten wir wohl kaum Filme produzieren, fotografieren oder das optimale Design für unsere Projekte ausarbeiten.

Natürlich sind nicht alle Menschen MMP-Studenten, aber trotzdem ist es für die meisten eine Selbstverständlichkeit, dass sie sehen können. Ja gut, vielleicht müssen sie Kontaktlinsen oder mit eine Brille durchs Leben gehen. Halb so schlimm, wenn man bedenkt, dass einige leider nie erfahren, was es bedeutet, ein schönes Bild anzuschauen oder einen Sonnenuntergang zu bewundern. Wieder andere verlieren diese Fähigkeit durch Krankheiten oder andere Umstände im Verlaufe ihres Lebens. Diese Menschen möchten wahrgenommen werden.

Die Stiftung Mühlehalde in Zürich ist ein Heim für blinde oder sehbehinderte Menschen. Die Pfleger dieses Heims helfen ihren Bewohnern, ihr Leben möglichst selbstständig zu meistern. Es sind vorwiegend ältere Menschen, die bei der Stiftung Mühlehalde zu Hause sind. Ich habe zwei nette, dort wohnhafte Damen getroffen. Sie haben mir ihre Geschichten erzählt. Und ich möchte sie mit euch teilen.


Frau Meiers Aussehen entspricht zwar ganz und gar nicht ihrem Alter, sie ist aber 88 Jahre alt. Sie hat ihr Leben lang in der Stadt Zürich gewohnt und ihr kinderloses Leben mit ihrem Mann und ihren Hunden in vollen Zügen genossen. Leider kam der Moment, wo ihr Mann verstarb. Wenig später musste sie ihre Hunde weggeben. «Zum guete Glück», wie sie sagt, ist sie noch nicht vollständig erblindet, sondern kann noch etwas sehen.

Frau Meier, wie viel Zeit ist vergangen, seit Sie gemerkt haben, dass Sie immer schlechter sehen?
«Angefangen hat alles damit, dass ich den grauen Star operiert habe. Danach konnte ich wieder fast 80% sehen. Bei der letzten Untersuchung haben die Ärzte dann aber festgestellt, dass meine Makula, also meine Netzhaut, erkrankt ist. Diese befindet sich ganz hinten beim Auge, weshalb man sie nicht gut operieren kann. Und Medikamente gegen diese Erkrankung gibt es nur in den USA. Exportiert werden diese jedoch nicht. Naja, daher wird meine Sehfähigkeit halt immer schwächer und schwächer. Jetzt muss ich halt warten.»

Wie kommen Sie denn im Alltag mit Ihrer Sehbehinderung zurecht?
«Ich komme gut zurecht. Aber ich gehe nicht mehr in die Stadt wie früher. Damals ging ich jeden Tag raus. Jetzt gehe ich sogar am Rollator. Wissen Sie, ich habe alles mögliche operiert. Das dritte Gelenk im rechten Knie, ein neues im linken Knie, einen Trümmerbruch in der rechten Schulter und so weiter. Das macht alles etwas schwieriger. Ich bin zwar nicht so begeistert vom Rollator, aber er hilft mir sehr.»

Früher, also als Sie Ihre Sehbehinderung schon hatten und trotzdem noch viel in die Stadt gingen, hatten Sie da das Gefühl, die Leute sind hilfsbereit und offen?
«Wissen Sie, ich habe von Anfang an einen Blindenstock mitgenommen. So war es klar, dass ich sehbehindert bin. Die Leute waren wirklich alle sehr, sehr hilfsbereit. Im Tram sind sie immer sofort aufgestanden, damit ich absitzen konnte. Viele wollen aus lauter Eitelkeit keinen Blindenstock zur Hilfe nehmen. Aber wie sollen dann die Leute wissen, dass man sehbehindert ist? Dann kann man auch nichts erwarten.»

Wie muss ich mir Ihr Sehvermögen vorstellen? Sehen Sie alles verschwommen? Oder nur noch Umrisse, zum Beispiel bei Personen oder Gegenständen?
«Ich sehe eigentlich noch ziemlich viel, es ist aber alles nebulös. Zum Beispiel Ihr Gesicht sehe ich nicht. Eigenartigerweise sind Gesichter bei mir immer schwarz. Darum kann ich auch Personen nicht mehr erkennen. Vielleicht an der Stimme. Bei Ihnen sehe ich, dass Sie einen hellen Pullover tragen und dass Sie dunkle Haare haben. Vom Gesicht sehe ich aber gar nichts.»

Stellen Sie sich Dinge bildlich vor, die Sie früher scharf sehen konnten?
«Nein, nicht so richtig. Ich denke auch nie: ‹Ach, das ist jetzt schade, dass ich das nicht mehr sehen kann.› Ich konnte sie ja sehen und weiss, wie das war. Und es war auch schön. Aber jetzt kann ich es halt nicht mehr sehen. Hier in meiner Wohnung orientiere ich mich eher daran, dass ich gewisse Dinge vor ein oder zwei Monaten noch scharf sehen konnte. So merke ich, dass mein Sehen wieder viel schlechter geworden ist.»

Was meinen Sie ist schlimmer? Geburtsblind zu sein oder im Verlauf seines Lebens zu erblinden?
«Das ist schwierig. Im Innern eines Blinden sieht es ganz anders aus als in unserem Innern. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie es ist, blind zu sein. Das Empfinden eines Blinden ist ganz anders. Das kann ich leider nicht beurteilen.»


Frau Gasser, eine kleine, zierliche Frau, ist 84 Jahre alt. Sie war schon bei ihrer Geburt blind. Zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern – davon waren zwei weitere blind – lebte sie bis 1985 in Erlenbach am Zürichsee. Seit dem 9. April 1985, einem Osterdienstag, sagt sie, ist sie nun bei der Stiftung Mühlehalde zuhause. «Da bini richtig deheime».

Frau Gasser, ist es schlimm für Sie, schon immer blind gewesen zu sein? Oder denken Sie, es wäre schlimmer, wenn Sie im Verlaufe Ihres Lebens erblindet wären?
«Es ist in Ordnung so, wie ich geboren bin. Auf diese Weise ist es nicht schlimm. Ich kenne ja nichts anderes. Ich denke, es wäre schlimmer, wenn ich jetzt sehen könnte und dann blind würde. Aber da ich so geboren bin, bin ich einverstanden damit. So bin ich.»

Also kommen Sie gut zurecht?
«Ja. Nur muss ich vieles suchen, weil ich manchmal nicht mehr weiss, wo ich die Dinge hingelegt habe. Und mein Gehör hat halt auch abgenommen. Ich bin auch schon 84.»

Und hier bei der Stiftung Mühlehalde fühlen Sie sich wohl?
«Ja, hier bin ich richtig zuhause. Wie damals bei meiner Mutter. Nur meine Schwester Trudi war böse zu mir. Sie hat mich oft geschlagen, weil sie nicht verstehen konnte, dass Blinde sich zum Beispiel an einem Pfosten anschlagen, weil sie ihn nicht sehen können.»

Oh, das ist aber nicht sehr nett.
«Nein, das war gemein. Sie hat mich auch manchmal angespuckt oder getreten. Zwischendurch war sie auch mal wieder lieb zu mir, ging mit mir spazieren oder Kaffee trinken. Sie war ein unglücklicher Mensch. Ich bin gleichzeitig erleichtert und traurig darüber, dass sie gestorben ist. Natürlich ist es nicht schön, dass ich sie nicht mehr habe. Aber ich bin froh, dass ich jetzt frei bin und machen kann, was ich will, dass niemand mehr mit mir schimpft.»

Wenn Sie spazieren gehen, kommt immer jemand mit, um Sie zu begleiten?
«Jetzt gehe ich fast nie mehr nach draussen, weil ich nicht mehr so viel Energie habe. Und hier im Haus halte ich mich so gerne auf. Hier fühle ich mich am wohlsten. Aber früher ging ich auch manchmal alleine spazieren. Da musste ich einfach zuerst einmal den Weg finden. Dann ging das problemlos.»

Halfen Ihnen die Leute in der Öffentlichkeit, wenn Sie den Weg mal nicht finden konnten?
«Ja, manchmal. Wenn ich mich verlief, wurde ich wütend, stampfte auf den Boden und rief: ‹Herrgott! Ich finde den Weg nicht!›, Wenn mich jemand gehört hat, half er mir in der Regel auch.»

Sie können sich ja Dinge nicht bildlich vorstellen. Funktioniert das bei Ihnen alles mit Fühlen?
«Vorstellen kann ich mir eigentlich gar nichts. Also, es gibt schon Dinge, aber sehr wenige. Wenn man blind ist, muss man alles spüren.»

Man sagt ja, dass Blinde besser hören und fühlen. Ist das wahr?
«Hören kann man sowieso, ob man blind ist oder nicht. Dass Blinde besser spüren als Menschen die sehen können, ist wahr, ja. Zum Beispiel, als meine «Mamme» früher abgewaschen hat, war es manchmal nicht sauber. Ich habe das gefühlt. Spüren kann man es besser als es zu sehen.»

Und wenn Sie etwas riechen, assoziieren Sie das mit einem Gefühl?
«Da kann ich gar nicht viel dazu sagen. Das zu erklären, hmm… Ich rieche zum Beispiel Zimtsterne. Dann weiss ich, dass Zimtsterne sternförmig sind. Aber ich habe ja nie einen Stern sehen können, also verbinde ich das mit der Form, die ich mit meinen Fingern ertasten kann.»


Als ich Frau Gasser all meine Fragen gestellt hatte, fragte sie mich, ob sie meine Hände anfassen dürfte. So hätte sie ein Gefühl, an das sie sich erinnern könne, wenn sie an mich denkt. Ich bejahte, also kraulte sie mit ihrer Hand sanft über meinen Handrücken und meine Finger. Sie sagte abschliessend: «Ihre Hände passen zu Ihrer Stimme».

(fs)

Kritik
von Laura Lüthi

Idee
Aus irgendeinem Grund sind mir in den letzten Monaten beim Tram- oder Busfahren in Zürich sehr viele Blinde Menschen begegnet. Dabei fiel mir jedes Mal auf, dass der Buschauffeur diese an derjenigen Station, an der sie aussteigen mussten, immer darauf hinwies. Sie bedankten sich freundlich und verliessen das Fahrzeug. Ich fragte mich dann immer, ob diese Menschen gut zurecht kommen in einer solchen Stadt. Beim Nachdenken merkte ich, dass ich noch nie mit einer blinden Person gesprochen habe. Geschweige denn eine gekannt habe. Da kam mir die Idee, ein Projekt zum Thema Blindheit zu machen. Dass es Interviews sein mussten, war mir klar. Ob die Bereitschaft bei den Blinden da sein würde, wusste ich noch nicht. Also kontaktierte ich die Präsidentin des Stiftungsrates, Frau Daniela Bock. Ich erklärte ihr, was mich interessiert, welche Ideen ich hatte. Interviews führen und fotografisch darstellen, wie die Personen im Alltag zurecht kommen. Kaum zwei Stunden später rief sie mich auf meinem Handy an. Sie war hell begeistert von meiner Idee, warnte mich aber schon vor, dass die Bewohner vermutlich eher zurückhaltend auf Fotos reagieren würden. Trotzdem wollte ich dieses Projekt unbedingt umsetzen und zumindest versuchen, auch einige Fotos zu bekommen. Das mit den Fotos, naja, das stellte sich tatsächlich als etwas schwierig heraus. Mehr dazu unter «Umsetzung».

Umsetzung
Der Gruppenleiter der Stiftung Mühlehalde, Herr Nenad Stankovic, war gegenüber meinem Projekt auch sehr aufgeschlossen. Frau Bock hatte mir mitgeteilt, dass er die Personen für die Interviews organisieren und diese darüber informieren würde. Einen Fragebogen hatte ich Frau Bock vorab bereits geschickt. Als ich dann ankam, empfing mich Herr Stankovic sehr herzlich und erklärte mir, dass er zwei Bewohnerinnen im Kopf hätte, die sicher gerne mit mir sprechen würden. Leider hatte aber die eine vergessen, dass ich hatte kommen wollen, also musste ich noch etwas warten, bis ich in ihr Zimmer konnte.

Das war aber alles halb so schlimm, denn Frau Meier ist eine sehr offene Dame. Sie erzählte mir auch noch einige persönliche Dinge über sich, die sie aber lieber nicht veröffentlicht haben wollte. Diesen Wunsch erfülle ich ihr natürlich. Sie liess sich auch von mir fotografieren. Als sie aber nach unserem Gespräch fest davon überzogen war, dass sie total unfotogen sei und dass das Bild, das ich von ihr schiessen würde, sicher schlecht rauskommen würde, hatte ich sofort die Idee, ihr Gesicht so darzustellen, wie sie ihre Sicht auf unsere beschrieben hatte. Schwarz.

Frau Gasser war anfangs sehr scheu, öffnete sich mir aber immer mehr und betonte auch immer wieder, wie gerne sie mir Dinge erzählt. Leider wollte sie sich um keinen Preis fotografieren lassen. Sie drücke ihre Augen immer so zusammen, das merke sie selbst. Wie das aussähe würde sie sich lieber gar nicht vorstellen. Also akzeptierte ich ihren Wunsch.

Nachbearbeitung
Die Interviews nahm ich mit meinem iPhone 6 auf, um sie später grob zu transkribieren. Wortwörtlich zu übernehmen, was die beiden Damen erzählten, wollte ich nicht, denn vor allem Frau Gasser wich des öfteren vom Thema ab. Ihr Aussagen habe ich daher möglichst in ihren Worten zusammengefasst.

Das Bild von Frau Meier habe ich mit meiner SONY Alpha DSLR-a300 geschossen und im Nachhinein mit einer schwarzen, geblurrten Ellipse im Photoshop ergänzt.

Kommentar
Auf dem Titelbild sind die Augen meiner Schwester zu sehen. Da die beiden netten Damen nicht gerade fotofreudig waren, bat ich sie um ein Foto ihrer Augen, das ich mit meinem iPhone schoss. Ich wollte nicht das eine Foto von Frau Meier auch schon als Titelbild benutzen.

Fazit
Ich habe sehr viel über Blinde oder Sehbehinderte Menschen gelernt. Besonders fasziniert hat mich die Tatsache – und das habe ich nebst dem, dass Frau Meier es sagte, auch selbst gemerkt –, dass das Innere von Blinden ganz anders aussieht. Sie setzen ihre Prioritäten neu. Ihre «Sicht» auf die Dinge ist eine ganz andere, sie sind – vielleicht nicht alle, aber zumindest Frau Gasser – sehr intelligent, einfühlsam und interessiert. Ich habe den beiden Damen versprochen, sie irgendwann einmal wieder zu besuchen. Und ich werde mein Versprechen auch halten.

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar