Die letzte Reise

Einst war sie nur ein Spielzeug. Heute ist sie sein Leben. War sie sein Leben. Die Eisenbahn.

Herr Müller war noch ein Kind – unbeschwert, sorgenfrei, frei. Die geschenkte Lokomotive im Kleinformat erschien in seinen Händen so gross, in seinen Augen so grossartig. Sein Geburtstagsgeschenk ein Werbegeschenk. Für mehr reichte es der Mutter nicht, für mehr Zuneigung auch nicht. Die Lokomotive war weiss. Weisser als die schneebedeckte Spitze des Ricken. Tunnelblick wenn er sie anschaut, wenn er die Farben bestaunt. Grün wie die Voralpen im Sommer. Blau wie die Sitter. Viaduktartig reihen Fenster aneinander, aus Plastik. Einzig getrennt durch graue Striche, Striche wie Pfeiler, Brückenpfeiler.

Herr Müller war glücklich. Damals. Nicht der Kindheit wegen. Die Lokomotive vertrieb Zeit, vertrieb Einsamkeit. Sie war bald mehr als Spielzeug. Sie wurde zum Freund, den er nie hatte. Sie wurde zur Familie, die es nie gab. Sie wurde alles. Er blieb nichts.
Nichts geblieben aus der Kindheit. Nur die Lokomotive. Die steht im Regal seiner Wohnung. Am Rande der Stadt. Inmitten von Sachbüchern, die sie beschreiben.
Davor steht Herr Müller. Hoch gewachsen, tiefe Falten im Gesicht. An der Jacke steckt sein Namensschild, immer noch. Heinrich Müller, Reisezugbegleiter. Jetzt ist Feierabend, leider. Er blickt aus dem Fenster, gegenüber die Voralpen. Expressiv das Bild, intensiv das Desinteresse. Seine Aufmerksamkeit anderswo. Er will die fahrenden Lichtfenster sehen, schlängelnd am Fusse des Berges. Danach endet der Fahrplan, danach endet sein Tag. Feierabend.

Das Rattern der Gleise besänftigt seine Seele. Der Schlaf war unruhig. Die Ruhe in der Stadtrandwohnung zu still. Herr Müller ist einsam. Morgendliche Gespräche von Reisenden lassen ihn teilhaben. Die Fahrkartenkontrolle ist Verbindung zum Mensch, Verbindung zum Leben. Er partizipiert an der Zugfahrt des Luzerner, des Rapperswiler, des Rothenthurmer. Hochmoore, tiefe Schluchten, weite Landschaften und enge Täler prägen die Aussicht hinter ihren Köpfen. Die Sicht durchs Fenster. Oft schweifen seine Gedanken in die Ferne, in die Fremde. Immer mit den Kratzern der Scheibe dazwischen. Nie frei. Immer gefangen.
Der Zug reist und er mit ihm. Das Gefühl des Reisens macht Herr Müller glücklich. Glückselig wäre er, wenn die Reise nicht gefühlt sondern getan würde. Dafür ist er zu einsam, zu verloren. Hier und in der Fremde.

Fremde Hände fühlen seinen Puls. Fühlen ihn nicht. Die Zeit prägte seine Falten tiefer. Nähe wurde fremder. Bekanntes wurde unbekannter. Koffer gepackt mit schönen Erinnerungen, mit der Lokomotive aus der Kindheit. Herr Müller machte sich auf die Reise. War glückselig und der Eisenbahn ganz nah.

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