Eine kurze Geschichte vom Schenken

Weihnachten steht vor der Tür. Unausweichlich. Man kommt nicht drumherum. Aber nicht jeder mag Weihnachten. Auch Hans nicht.

Eigentlich mag Hans Weihnachten nicht sonderlich. Die bunten Lichter sind ja noch hübsch anzusehen. Aber all diese Leute, die vom schlechten Gewissen gehetzt Mitte Dezember die Kaufhäuser verstopfen, um unbedingt das teuerste und beste Geschenk für ihre Liebsten zu ergattern. Da kann Hans nur den Kopf schütteln. „Reine Geldmacherei!“, schimpft Hans im Stillen. Und dann diese penetrante, viel zu fröhliche Weihnachtsmusik! Da wird man ja nur schon beim Zuhören depressiv. Von wegen „Leise rieselt der Schnee“. Der sorgt ja nur für Verkehrschaos, nasse Füsse und verstopfte Nasen. Ausserdem wird aus Schnee schlussendlich doch nur Schneematsch, der nicht nur mühsam, sondern auch noch hässlich anzusehen ist.

Jaja, die Zeit der Liebe und des Schenkens. Man sollte meinen, Weihnachten ginge besinnlich vonstatten. Aber daran glaubt Hans schon lange nicht mehr. Als Polizist sieht er oft das zweite, hässliche Gesicht von Weihnachten: Drama, Familienstreit und Selbstmordversuche. Wenn man schon einmal einen jungen Mann an einem Balken hängend gesehen hat, vergeht einem die besinnliche Stimmung ziemlich schnell. Trotz des schön geschmückten Weihnachtsbaums, der in aller Pracht mitten im Wohnzimmer steht. Wie ein schlechter Witz.

Hans seufzt. Er schüttelt den Kopf, um die Bilder wieder loszuwerden. Ohne grossen Erfolg.

Er blickt auf die Uhr. Noch zwei Stunden, dann ist seine Schicht zu Ende. Bis jetzt war alles ziemlich ruhig, wenn man bedenkt, dass am 24. Dezember normalerweise Hochbetrieb herrscht auf der Polizeistation der kleinen Ortschaft.

Er steht auf, um sich noch einen Kaffee zu holen. Irgendwie muss er ja die Zeit rumkriegen. Sein Blick schweift zum Fenster. Er muss zugeben, wenn der Schnee so leise vom nachtschwarzen Himmel rieselt und die Welt unter einer weissen Decke versinkt, hat das irgendwie etwas Beruhigendes. Dieser kurze Moment, wo die Welt stillzustehen scheint. Bis aus dem Schnee Matsch wird.

Das Klingeln des Telefons reisst ihn aus seinen Gedanken. Rasch greift er zum Hörer und bevor er sich melden kann, hört er die aufgeregte Stimme eines Jungen: „Bitte helfen Sie mir! Da ist etwas in unserem Kamin! Ich glaube es ist der Weihnachtsmann!“ Hans traut seinen Ohren nicht. „Was ist im Kamin? Du träumst, Junge!“ Hans mag es nicht, wenn man ihn veräppelt. „Nein, nein, ich habe den ganzen Abend Wache gesessen. Und seit einer Stunde poltert es wie verrückt im Kamin! Ich bin mir sicher, der Weihnachtsmann steckt da drin fest!“ „Vielleicht ist es eine Katze oder so“, murmelt Hans, mehr zu sich selbst als zu dem Jungen. „Neeein, keine Katze! Der Weihnachtsmann!“ ruft der kleine Junge, mittlerweile schon fast verzweifelt, weil ihm der Polizist am anderen Ende nicht glauben will. „Wo ist denn deine Mama?“, fragt Hans. „Die ist am Arbeiten!“ „Und du bist ganz alleine zu Hause?“ Für Hans ist es zwar nichts neues, dass Kinder einfach allein zu Hause gelassen werden und auf sich selber aufpassen müssen. Aber es schockiert ihn jedes Mal von neuem. „Jaja, bin ich, aber kommen Sie bitte schnell, Herr Polizist, sonst geht Weihnachten kaputt, wenn der Weihnachtsmann die Geschenke nicht mehr verteilen kann!“ Hans seufzt. Noch zwei Stunden. Naja, anstatt hier auf der Wache zu warten, kann er genauso gut die Katze aus dem Kamin befreien. Dann hat er wenigstens was Gutes getan heute.

Eine halbe Stunde später steht Hans vor dem Haus, dass ihm der kleine Junge beschrieben hat. War zwar ein ziemlicher Aufwand, die Wegbeschreibung des kleinen Jungen zu verstehen, aber jetzt steht er vor der Türe und drückt auf die Klingel. Im Innern des Hauses ertönt die Melodie von „Jingle Bells“. Hans schüttelt ungläubig den Kopf. Er blickt sich um. Das ganze Haus blinkt und leuchtet. Die verrückteste Weihnachtsdeko, die Hans jemals gesehen hat. Die Krönung ist der dicke Weihnachtsmann, der auf dem Giebel des Daches hockt und laut „ho, ho, ho!“ ruft. „Was mache ich eigentlich hier?!“, murmelt Hans. Aber bevor er sich es anders überlegen kann, geht die Türe auf und ein kleiner Junge mit roter Zipfelmütze steht im Türrahmen. „Endlich sind Sie da, Herr Polizist! Kommen Sie schnell!“ Hans bleibt die Antwort im Hals stecken. Der kleine Junge packt ihn an der Hand und zieht ihn ins Wohnzimmer. Und tatsächlich, im Kamin scheint etwas festzustecken. Ein lautes Poltern ist zu hören. Und – Hans traut seinen Ohren kaum – ein leises „Ho, ho, ho!“ Oder hat er sich das nur eingebildet? Wahrscheinlich hat er schon Halluzinationen von dieser irren Weihnachtsdeko hier… Aber nein, er hat es schon wieder gehört. Hans nähert sich dem Kamin. Das „Ho, ho, ho!“ klingt zwar dumpf, ist aber unüberhörbar. Obwohl Hans glaubt, dass seine Ohren ihm einen Streich spielen, bückt er sich und blickt in den Kamin. Und traut seinen Augen nicht. Da hängt einer kopfüber im Kamin! Mit rotem Mantel, weissem Bart und Zipfelmütze. Und stinkt nach Glühwein.

Ungläubig reibt Hans sich die Augen. „Wer ist denn so bekloppt und steigt besoffen in einen Kamin?“ Eigentlich meint Hans, er hätte das nur gedacht, als ihn ein Schwall Glühweinfahne trifft und der weissbärtige, kopfüberhängende Mann röhrt: „Ich bin beim Geschenke verteilen in diesem blöden Kamin steckengeblieben! So’n Mist! Dann krieg ich wieder mächtig Ärger, wenn die Kinder ihre Geschenke nicht bekommen. So’n Mist, aber wirklich!“ Hans ist mittlerweile überzeugt, dass irgendein Geisteskranker sich einen Spass daraus gemacht hatte, sich als Weihnachtsmann zu verkleiden und in einen Kamin zu klettern. „Jetzt hören Sie mal, guter Mann! Ich ruf jetzt die Feuerwehr und den Krankenwagen, das geht doch nicht, dass Sie sich als Weihnachtsmann verkleiden und in irgendwelche Kamine klettern!“ „Ich BIN der Weihnachtsmann, du Dummkopf!“, rülpst der alte Mann. „Hab nur dummerweise etwas zu viel Glühwein erwischt heute…“ „Das ist auch das einzige, was ich dir glaube, das ist nämlich deutlich zu riechen!“ Der kleine Junge, der die ganze Zeit über mit grossen Augen gelauscht hatte, zupft an Hans‘ Jacke. „Der sagt die Wahrheit, Herr Polizist! Auf dem Dach steht der Schlitten voller Geschenke.“ „Jaja, und morgen kommt der Osterhase!“ Hans verliert langsam die Geduld. Wie gesagt, er mag es nicht, wenn man ihn veräppelt. Da reagiert er ziemlich empfindlich drauf. „Und die Rentiere, die sind bestimmt schon ganz aufgeregt, weil ich noch nicht zurück bin!“, lallt der Mann im Kamin. Und plötzlich – ein Klopfen. Und gleich nochmals. „Das kommt vom Dach!“, ruft der kleine Junge und eilt nach draussen. „Warte!“, brüllt Hans und eilt ihm hinterher. Nicht, dass dem Jungen noch etwas geschieht. Wer weiss, was sich da draussen alles herumtreibt.

Der kleine Junge steht in der Auffahrt zum Haus und starrt zum Dach hoch. Hans folgt seinem Blick. Und ihm stockt der Atem. Ein grosser Schlitten, vollbepackt mit Geschenken. Und vor den Schlitten gespannt stehen 6 grosse, schöne Rentiere. Sie schnauben ungeduldig und trampeln mit den Hufen. Hans muss sich setzen. Aber da zerrt schon wieder der kleine Junge an seiner Jacke. „Wir müssen Weihnachten retten, Herr Polizist, der Weihnachtsmann steckt ja im Kamin fest und kann die Geschenke nicht verteilen!“ „Ja, ich glaube vor allem, dass er nicht mehr fahren darf mit dieser Glühweinfahne!“, meint Hans und fasst sich – entsetzt über seine eigenen Worte – an die Stirn. „Kommen Sie, wir machen das! Sie fahren und ich klettere den Kamin runter“, ruft der kleine Junge aufgeregt. Aus dem Kamin röhrt es laut: „Das finde ich jetzt mal eine gute Idee!“ Hans schüttelt den Kopf. Er kann immer noch nicht fassen, was er hier sieht. Und trotzdem, als würde ihn etwas da hochziehen, klettert er mit dem kleinen Jungen aufs Dach und setzt sich in den Schlitten. Zaghaft nimmt er die Zügel in die Hand. Die Rentiere schnauben und werfen ungeduldig ihre Köpfe hin und her. Und plötzlich muss Hans lachen. Wahrscheinlich ist er jetzt auch verrückt, wie der Alte da im Kamin. Aber was solls. Ist ja jetzt auch zu spät. Er schnalzt mit der Zunge und ruft laut „Hüh, ihr komischen Viecher!“ Schliesslich müssen ja die Geschenke verteilt werden, sonst geht Weihnachten kaputt!