Eine Stimme vom Taksim-Platz

Was passiert momentan in der Türkei? Wer sind diese Leute, die protestieren und warum tun sie es? Diese und andere Fragen gingen wir in einem Interview nach. Per Facebook interviewten wir eine Studentin aus Istanbul: Cansu Boz, 22 Jahre alt. Sie war seit dem Beginn der Proteste mit dabei.

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Die Studentin Cansu Boz (l).

Wann hast du das erste Mal an den Protesten teilgenommen?
Cansu Boz: Freitagnacht, den 31. Mai.

Aus welchen Gründen?
Anfangs nahmen nur wenige Personen an den Protesten teil. Sie waren dort, lasen Bücher und machten Musik. Und dann kam die Polizei. Sie brannte ihre Zelte ab und griff die Demonstranten brutal mit Wasserwerfern und Gasgranaten an. Die Demonstranten sassen einfach dort. Sie haben sich nicht gewehrt…

Erzähle von deinen ersten Tagen bei den Demonstrationen.
Als ich dort ankam, war die Stimmung sehr fröhlich und ausgelassen. Alle waren höflich und glücklich. Viele hatten Fahnen in den Händen. Natürlich konnte ich nicht mit dem Auto oder so zum Park fahren, weil überall Leute auf der Strasse waren. Dann traf ich mich mit meinen Freunden, und wir schlenderten durch die Strassen, bis die Polizei kam. Das war der Zeitpunkt, als es für mich losging.

Was kannst du von der Gewalt erzählen, welche die Polizei gegen die Demonstranten (oder gar gegen Dich) angewendet hat?
Ich war immer aufmerksam. Immer. Es gab ständig die Gefahr, dass eine Gasgranate dich am Kopf treffen könnte. Dann auf einmal würgten alle. Geschrei. Und es brannte im Hals. Das alles waren Nebeneffekte der Gasgranaten. Du konntest nicht mehr atmen oder sehen. Du konntest dich nur noch langsam bewegen, weil du immer nach der Polizei Ausschau halten musstest. Dann gab es Wasserwerfer, die dich fünf Meter nach hinten schleudern konnten. Aber das war nur der Anfang. Dann verfolgten sie uns mit ihren Schlagstöcken. Ich hatte Glück. Mich erwischten sie nicht. Aber ich kenne Leute mit Verletzungen, und ich meine nicht kleine Verletzungen. Sie sind gross und bedecken den ganzen Körper. Wenn du hinfällst, dann schlagen sie dich so stark, als ob sie dich umbringen wollten.

In einem Post auf Facebook hast du geschrieben, du hättest Tote gesehen. Was kannst du darüber erzählen?
Ich kann erzählen, was ich gesehen habe, aber ich weiss nicht, warum es passiert ist und wie es sich anfühlte. Sicher ist, es geschah alles innerhalb kurzer Zeit. Vielleicht kam es mir aber auch nur so vor, wegen dem Adrenalin, keine Ahnung… Wir flohen vor der Polizei und vor dem Gas. Man musste immer aufmerksam sein. Aber dieser eine Demonstrant war es nicht. Die Gasgranate traf seinen Kopf. Er fiel hin. Seine Augen waren starr. Sie brachten ihn zur nächstgelegenen Erstehilfestation, aufgebaut von uns Demonstranten. Ich sah ihn nie wieder. Ich habe nur gehört, dass er gestorben sei.

Was kannst du über die türkischen Medien sagen?
Es war ein totaler Medienblackout. Ich kann es nicht glauben. Ich werde ihnen nie mehr glauben, was immer sie auch sagen werden. Es gab nur einen Fernsehkanal, der von den Protesten und der Polizeigewalt berichtete (Halk TV, Public TV). WIR waren die Medien. Per Twitter, Facebook, Instagram und Tumblr. Es gab einen Moment, da fühlte ich mich wie ein Reporter, weil ich über Twitter Schutz für uns zu organisieren versuchte. Ich versuchte zu erfahren, woher die Polizei als nächstes angreifen wird. Wir waren die Medien. Wir machten Fotos. Wir hatten die News, und nur wir hatten die Wahrheit. Als hier Leute starben, berichteten unsere TV-Kanäle über Pinguine in der Antarktis.

Vize Premier Bülent Arinc entschuldigte sich für die Gewalt der Polizei gegen die Demonstranten. Was hast du gedacht, als du das gehört hast?
Welch ein Lügner.

Was denkst du muss passieren, damit die Proteste enden?
Erdogan muss umkehren. Er muss sein Ego überwinden und er muss – was sehr unwahrscheinlich ist – sein Land und 100% der Bürger einbeziehen. Zur Zeit versucht er die Öffentlichkeit in zwei Teile zu spalten.

Westliche Medien berichten, dass die Mehrheit der Demonstranten unter 35 Jahre alt sei. Stimmt das?
Ja, das stimmt, und das lustige daran ist, dass wir immer als apolitisch galten. Und ja, wir waren apolitisch. Wir waren. Aber jetzt haben wir genug. Unser Leben war so eingeengt. Erdogan verbot Alkohol, er kürzte die obligatorische Schulzeit, er sagt uns sogar, wieviele Kinder wir “machen” sollen. Wir haben wirklich genug. Wir sind die neue Generation, und wir sind verantwortlich für unser Land.

Denkst du, dass die Mehrheit der Türken den Protest unterstützen?
Ja, ich denke schon, aber ich bin nicht sicher. Es gibt grosse Unterschiede innerhalb der Bevölkerung. Ich habe bei den Protesten Leute getroffen, die für Erdogan gestimmt haben, jetzt aber sehr betroffen sind von den Vorgängen hier.

Wie ist die aktuelle Lage in Istanbul? Gibt es immer noch Ausschreitungen?
Mittlerweile ist es ruhiger. Aber in Ankara ist es schrecklich. Der Grund, dass es hier ruhiger geworden ist, ist der, dass wir über Twitter um Hilfe gerufen haben. Wir haben ausländischen Medien geschrieben, CNN, BBC etc., und sie auf die Gewalt hier aufmerksam gemacht.

Erdogan sagte dieses Wochenende, dass er langsam die Geduld verliere mit den Demonstranten. Was heisst das für dich?
Ich denke, es wird hart für uns. Ich hoffe wirklich nicht, dass es soweit kommen wird, aber es wird. Erdogan ist wie ein Freund, den du nie verlassen kannst. Er wird nicht aufhören, bis er bekommt, was wer will. Aber die Sache ist die: Wir auch nicht. Wir wollen Gerechtigkeit. Wir wollen unsere Republik zurück. Also, was werde ich tun? Ich werde dasselbe tun wie die letzten zwölf Tage: Nicht schlafen und standhalten.

Warst du überhaupt an der Uni in den letzten beiden Wochen?
Ja, war ich. Manche Prüfungen wurden verschoben, aber andere mussten wir trotzdem schreiben. Wir schliefen nicht viel. Eigentlich gar nicht.

Wie geht es dir jetzt, und wirst du weiterhin an den Protesten teilnehmen?
Ich bin immer noch zornig, und ich werde noch lange zornig sein. Um die Wahrheit zu sagen: Jedes Mal, wenn ich Erdogans Gesicht sehe oder seine Stimme höre, fühle ich mich hoffnungsloser, verzweifelter. Das ist der Grund, warum ich dabei bleibe. Wir werden das gemeinsam durchstehen. Ich weiss noch nicht wie, aber wir werden uns wehren.

Fotos: Cansu Boz

Links zu den Protesten in der Türkei (Digezz-Infografik):
defnesumanblogs.com
vice.com/vice-news/istanbul-rising