Geistergeschichten in 8Bit

«Guten Morgen, Schlafmütze! Ich gehe jetzt Joggen in den Wald hinterm Haus. Wir wohnen nun schon seit zwei Wochen hier, und ich war noch nie dort! Schlaf du ruhig aus. Um elf Uhr komme ich spätestens zurück, dann können wir ja was Leckeres zusammen kochen. 🙂 Gruss und Kuss – Jenny»

Jetzt sehe ich es vor mir: Rotbraun schimmert das rostige Tor zwischen den Bäumen. Die Abendsonne hat den Wald in ein magisches Zwielicht getaucht, der vom Efeu überwucherte Stahl ist durch das Gestrüpp hindurch kaum zu erblicken. Behutsam nähere ich mich ihm. Das Moos unter meinen Füssen dämpft meine Schritte so stark, dass kein menschliches Geräusch die Klänge der Natur unterbricht: Vögel zwitschern auf den Ästen, der Wind rauscht durch die Eichenblätter.

Ich muss mich beeilen, muss sie finden, noch bevor die letzten Sonnenstrahlen verschwunden sind, welche meine Haut im Moment auf so wundervolle Weise wärmen. Eine Wühlmaus schreckt auf und verschwindet im Laub, als das quietschende Geräusch des alten Scharniers für einen kurzen Moment die Idylle durchdringt. Ich werfe einen letzten Blick zurück und betrete den geheimen Garten.

Plötzlich schlägt die Stimmung um. Die Luft fühlt sich elektrisch an, auf meinen Armen sträuben sich die Haare. Ein lautes Grollen lässt mich zusammenzucken. Die Spannung entlädt sich in schwarzen Gewitterwolken und Regen durchnässt meine Kleider. Wie graue Säulen ragen die Bäume jetzt in den Himmel, der Vogelgesang ist verstummt. Feuchter Nebel zieht durch das Gras. Mir wird kalt. Ich haste den schmalen Pfad entlang, vorbei an dunklen Brombeersträuchern. Da steht es vor mir: das Haus.

Es scheint grösser, als auf der Karte vermerkt. Laut prasseln die Regentropfen auf sein Dach. Sein Holz biegt sich und knarzt im Sturm. Ich zögere und trete vor die modrige Tür. Jenny muss hier sein. Noch bevor ich meine Finger ausstrecke, öffnet sich der Eingang wie von Geisterhand. Ich trete in die Finsternis.

Das Tosen der Sturmböen hört augenblicklich auf. Die Stille ist erdrückend. Eine flackernde Lampe wirft dämmriges Licht in den Raum. Ein abgewetzter, dunkelgrüner Sessel steht zu meiner Rechten. Daneben ein altes Grammophon, welches schon längst keine Lieder mehr spielt. Links von mir befindet ein Tisch mit vier Stühlen, einer davon ist umgekippt. Auf einem von Rissen durchzogenen Teller verwest etwas, das einmal ein Stück Kuchen gewesen sein könnte. Würmer kriechen über das Porzellan. Ein fauliger Geruch dringt in meine Nase.

«Jenny?», rufe ich.

«Bist du da?»

Keine Antwort. Ich will so schnell wie möglich von hier weg. Weg von diesem Haus, zurück durch den verwunschenen Garten, nach Hause. Da erblicke ich sie: Eine Gestalt, etwa halb so gross wie ich, sitzt im Halbdunkel angelehnt an der Wand vor mir. Von unbehaglicher Neugier erfüllt, nähere ich mich ihr. Ihr weisses Kleid ist schmutzig, ihre Haare hängen zerzaust vom Kopf. Das Puppenmädchen schaut mich an. Seine Augen sind starr – und doch irgendwie lebendig. Sein Plastikgesicht rührt sich nicht, der Mund bleibt geschlossen. Und doch scheint es mir, als würde ich ein Kichern vernehmen. Mit welchem Zauber spielst du mit mir, Puppenmädchen?

Neben der Puppe führt eine hölzerne Treppe nach unten. Meine Füsse berühren die morschen Stufen nur zögerlich. Jeden Moment erwarte ich, einzustürzen. Im Keller ist es stockfinster. Ich versuche, mit meinem Feuerzeug etwas Licht ins Dunkel zu bringen, doch die Flamme dringt kaum durch die Schwärze des Gewölbes.

«Jenny!», rufe ich erneut in die Finsternis.

Stille. Ängstlich schreite ich über den Kiesboden. Der Raum ist weitläufig, ich muss aufpassen, dass ich den Weg zurück wieder finde. An den Wänden stehen schimmlige Regale. Auf ihnen sind gläserne Behälter aufgereiht: Phiolen, Weinflaschen, Tränke. Einige sind leer, doch die Meisten sind mit einer seltsamen, dunkelroten Flüssigkeit gefüllt. Ein Grauen überkommt mich, als ich spüre, wie sich knöcherne Finger auf meine Schulter legen. Ich will mich umdrehen, doch etwas Stumpfes schlägt auf meinen Hinterkopf. Das Feuerzeug fällt zu Boden. Ich taumle, stürze. Die Welt um mich herum wird schwarz.

(mm)

Kritik
von David Guidali

Das Experiment

House of the Weeping Widow ist eine Symbiose. Der Versuch, zwei Dinge miteinander zu kombinieren, die eigentlich als unvereinbar gelten. Auf der einen Seite steht die elektronischste aller Musikrichtungen: Chiptunes. Dieser wird auf der anderen Seite ein Storytelling gegenüber gestellt, welches Elemente voller Ungreifbarkeit und Naturmystik beinhaltet. Die Verbindung aus trashiger, technischer Musik und natürlicher Romantik in Form von Gruselgeschichten soll dem Leser / Hörer des Projektes eine neuartige Erfahrung bieten.

Die Idee

Wer kennt sie nicht, die Titelmelodie von Tetris? Mit einfachsten Mitteln wurde hier in den Anfängen der elektronischen Unterhaltung ein Ohrwurm geschaffen, der noch heute als Klassiker gilt. Diesem Vorbild bin ich nachgeeifert. Und doch wollte ich mehr: Genau so, wie 8Bit-Musik meistens in Verbindung mit einem bestimmten Videospiel wahrgenommen wird, wollte auch ich, dass mein Sound neben der Audiokomponente zusätzlich Anlass für ein gutes Kopfkino bietet. Deshalb – und weil ich ein grosser Fan von Geistergeschichten bin – entschied ich mich, das Projekt House of the Weeping Widow ins Leben zu rufen.

Konvergenz!

Konvergenz war für  mich ein Muss. Die Songs sollten eine gewisse dunkle, melancholische Grundstimmung haben (für die Musiker: diese wurden allesamt in natürlichem Moll geschrieben, ausser «Secret Garden», welcher den lydischen Modus verwendet). Unterstreichen wollte ich die Geschichte zudem noch mit einigen passenden sogenannten «Mood-Bildern», welche ich zudem mit subtilen Animationen versehen habe. Auch kleine atmosphärische Musikeffekte habe ich in die einzelnen Stücke eingebaut. Um House of the Weeping Widow zu einer Marke werden zu lassen, habe ich zusätzlich noch ein entsprechendes Logo mit passendem Schriftzug entworfen.

Lessons learned

Das Projekt gab mir die Gelegenheit, mich sowohl auf grafischer, lyrischer wie auch musikalischer Ebene weiterzubilden. Ich habe gelernt, wie man auch mit minimalsten Mitteln kleine Songs konstruieren kann. Zudem erfuhr ich, wie wichtig ein grosser Wortschatz zum Beschreiben von fiktiven Szenen ist – leider lese ich viel zu wenig Bücher, und so musste ich oftmals nach Synonymen googeln, um die richtigen Wörter für meinen Text zu finden bzw. nicht dasselbe Wort zu oft zu verwenden. Das Programm Pulse Boy ist für Anfänger wie mich ideal geeignet, um kurze Chiptunes-Stücke zu komponieren. Zukünftig werde ich jedoch auf ausgereiftere Anwendungen wie Fruity Loops oder LMMS zurückgreifen.

Tools

Folgende Tools wurden zur Umsetzung angewendet:

  • Pulse Boy
  • Adobe Photoshop
  • Adobe After Effects
  • Adobe Illustrator
  • Adobe Audition

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