Go natural

Falls du dich in diesen Teil des Beitrags begeben hast, erfährst du jetzt, wie es wirklich war:

Fersen ok

Halb fünf Uhr morgens: Wir treffen uns auf einem Parkplatz, es ist wärmer als gedacht – vielleicht haftet noch der letzte Rest Bettwärme. Ich steige ein, ziehe die Augenbrauen zusammen. Wer zur Hölle hört um diese Uhrzeit deep tech minimal house sound? Die zweite Hälfte meines Teams anscheinend. Sie bemerkt meinen Blick und stellt leiser.

Um fünf Uhr kommen wir am Fuss des Bergs an. Vor uns haben wir eineinhalb Stunden Weg; nach oben, im Dunkeln. Die Stirnlampe flackert zu unseren viel zu munteren Gesprächen, das wird uns schon noch vergehen.

Unser erster Halt ist eine Aussichtsplattform auf dem Gipfel: Eine Timelapse des Sonnenaufgangs — das gehört sich in einem Lifestyle-Video so.

Mittlerweile ist es alles andere als kuschlig warm, gegessen haben wir auch noch nichts. Kleine Randnotiz: Es spielt sehr wohl eine Rolle, wenn zwischen der Sonne und der Kamera noch ein Berg steht – wir warten eine weitere Stunde, essen eine Packung Nüsse. Dann endlich:

Als das Licht über die Bergspitzen klettert und in die Bäume taucht und wir das alles im Kasten haben, fühlen wir uns erleichtert. Unsere Füsse fühlen wir hingegen nicht mehr.

Fersen tun langsam weh

Keine Ahnung, wie wir von der Aussichtsplattform ins Restaurant gekommen sind, das einzige was ich momentan noch fühle, ist eine unangenehme Druckstelle an meiner Ferse. Ich ignoriere sie. Lauwarme Schokolade wärmt besser als keine Schokolade. Dann geht’s weiter.

Noch nie in meinem Leben bin ich mit meinem Notizbuch auf einem Berg gesessen und habe jemanden skizziert. Aus ästhetischen und zeitlichen Gründen. Heute scheint mir das eine logische Konsequenz des Hipster-daseins.

Auf dem Weg zum See machen wir ein paar Shots davon, wie wir gemütlich einen Waldweg entlang schlendern. Sehr realistisch; Stativ und Gepäck liegen hinter einem Busch, das macht sich nicht gut im Bild-Hintergrund. Eine halbe Stunde Aufwand für 7 Sekunden Filmmaterial. Das ist Leben.

Kein Gefühl mehr in den Fersen

Der See empfängt uns mit all seinen Farben, seiner Natur und seinen Schildern zum allgemeinen Feuerverbot. Das schränkt die Szene mit dem Grillieren ziemlich ein. Pflichtbewusst wie wir sind, rufen wir die angegebene Telefonnummer an. Keiner geht ran. Das Holz brennt gut. Und sieht gut aus – wir haben extra telegenes Holz von zu Hause mitgenommen. Wir wollten schliesslich kein optisches Risiko eingehen und Natur-Bio-Scheite verwenden.

Wir drehen die erste Szene. Nochmals: Das Tupperware auf dem Stein stört das Setting. Nochmals: Husten ist unsexy.

Nur noch Gefühl in den Fersen

nach 13h Dreh filmen wir uns nur noch von hinten. Irgendwann spielt das Gesicht einfach nicht mehr mit. Für die Schlussszene müssen wir die Kamera fünf Mal neu positionieren, weil wir unkonzentriert sind und nur noch durch Kopfbewegungen und knappe Geräusche kommunizieren. Und die beiden Kinder, die uns schreiend ins Bild rennen, machen es auch nicht einfacher.

Der Weg zum Parkplatz scheint länger als die ganze Wanderung. Könnte am Stativ und dem Rucksack liegen. Könnte aber auch an den brennenden Wunden an meinen Fersen liegen. Oder an der Müdigkeit.

Die Rückfahrt wird begleitet von einvernehmlichen Schweigen und deep tech minimal house sound.

Bloss nicht hinschauen

Mit eingecremten und zugepflasterten Füssen und den ersten Anzeichen von Muskelkater gehe ich ins Bett. Ein letzter Blick aufs Handy: „Habe gerade rausgefunden, dass es zehn Minuten entfernt von der Aussichtsplattform Parkplätze gegeben hätte, 2h morgendliches Spazieren wären eigentlich nicht nötig gewesen.“

Mir egal. Gute Nacht.

Kritik
von Julia Dunlop und Anna Kreidler

Lifestyle ist auf Social Media ein Begriff, der zwischen der Glaubwürdigkeit und den Werten unserer Generation tanzt. Irgendwie ist uns ja schon bewusst, dass gehypte Insta-Königinnen nicht wirklich so schön sind, nicht wirklich alles haben können - aber hält uns das davon ab, dieses Ideal zu verfolgen?

Um ein solches Video zu produzieren, wird nicht nur auf seiten des Storytellings inszeniert, es verlangt auch einiges an Technik. Teils fühlten wir uns vor der Kamera ziemlich unwohl, weil wir aus einem unnatürlichen Kontext heraus so tun mussten, als ob wir: wandern, essen, skizzieren oder verträumt auf einem Stein stehen.

Für Szenen wie diese brauchten wir:

Manfrotto filmstativ
Sony A7S
Steuerrad als Steadycam
ND Filter

Filmtechniken

Anstelle einer Steadycam wurde in dieser Produktion mit einer Spezialanfertigung in Form eines Steuerrads gefilmt. In der Mitte des Rads konnte die Kamera auf einem herkömmlichen Stativ-Schlitten montiert werden. Der Vorteil war die einfache Handhabung, die Konstruktion lässt sich einfacher führen als eine Steadycam und wiegt nicht so viel. Der Nachteil: Beide Hände sind am Rad, manuelles Fokussieren ging nicht.

S-log

Die Sony A7S stellen die Funktion S-log zur Verfügung. Dieser erlaubt, den hellsten Teil im Bild auszuleuchten, ohne dass Details im Schattenbereich verloren gehen. So ist eine aussergewöhnliche Reproduktion der high-lights und der low-lights möglich.

Das Problem: Wenn man mit S-log filmt, muss der Isowert bei mindestens 3200 liegen - ohne ND-Filter ging also gar nichts. Weil wir im Dickicht der Bäume filmten, war es oftmals zu dunkel, der ISO-Wert auf 6000: körniges Footage sind die Folge. Hätten wir mit einer Spiegelreflex-Kamera gefilmt, wäre das Rauschen allerdings noch höher gewesen; die Sony A7S ist äusserst lichtempfindlich.

Postproduction

Um einen „cinematic look“ zu erzeugen, wurde das Format auf widescreen geändert. Beim Dreh wurde jedoch nicht immer darauf geachtet, am oberen und unteren Bildrand genügend Raum zu lassen, so wirken einige Szenen jetzt etwas eingeengt. Auch wenn es vom Bildausschnitt etwas befremdlich wirkt, sollte bei diesem Vorgehen genügend Raum einberechnet werden, sonst ist der Effekt am Schluss nicht halb so gelungen.

Beim Color Grading lag die Schwierigkeit im S-log. Weil das Bild dadurch total entsättigt wird, ist es schwieriger, die Farben aus dem Material zu holen. Deshalb wurde ein preset verwendet, das den gewünschten herbstlichen Effekt kreiert. Dieses wurde noch manuell justiert, weil einige Aufnahmen etwas übersättigt wirkten.Vereinzelt wirken die Shots etwas körnig, eine Folge des hohen ISO-Werts.

Der Schnitt orientiert sich am Takt der Musik. Damit der Rhythmus des Films auf die Musik abgestimmt ist, wurde sie schon früh ins Projekt einbezogen. Das Musikstück ist allerdings länger als die Videosequenz. Weil es dramaturgisch unschön gewesen wäre, die Lücken mit moodshots zu füllen, musste das Stück gekürzt werden. Was sich als schwierig erwies, da die Musik einer Steigerung unterliegt, die neue Instrumente mit einbezieht.

Randnotiz: Nächstes Mal zuerst schauen, wie teuer die Lizenz ist, dann die Demoversion in die Produktion miteinbeziehen.

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