Hallo. Mein Name ist Joël Viotti und ja, ich gehöre auch dazu.
Jedes mal, wenn sich eine Person zu mir gesellt, reicht ein kurzer Blick völlig aus, dass ich mir mein eigenes Bild des Reisenden mache. Wie ist wohl sein oder ihr Name, Alter und wo fährt die Person hin? Ein Blick und sämtliche Fragen lassen sich beantworten, wenn auch nicht der Realität entsprechend. In den letzten zehn Tagen führte ich Tagebuch, um meine Reisepartner zu bewerten und machte mir zugleich mein ganz persönliches Bild des Gegenübers. Sämtliche Skizzen sowie Beschreibungen sind rein fiktiv.
Die Arbeitende – Tag 1
So habe ich mir den Start in die neue Woche vorgestellt! Um genau 6:57 Uhr fuhr der Zug von Visp in Richtung Bern und ich bekam gerade noch einen Platz bei einer älteren, asiatischen Dame. „Ob sie hier in der Schweiz vielleicht Ferien macht?“, fragte ich mich. Wohl nicht, denn sie reiste ganz allein und schien mir aufgrund ihres Mantels am Haken und der schlichten Kette um den Hals eher wegen des Geschäfts in der Schweiz zu sein. Ich bin mir sicher, sie ist eine Business-Frau. Denn, sie tippte bewusst und gekonnt in die Tasten ihres Computers und schien in ihre Arbeit vertieft zu sein, dass sie wohl nicht hätte gestört werden wollen. Ob sie eventuell ein wichtiges Meeting vor sich hatte? Vielleicht ging es um ein richtiges Millionengeschäft zwischen einer Unternehmung aus der Schweiz und der anderen aus China. Wow! Mir war Minette, so stellte ich mir ihren Namen vor, als Reisepartnerin sympathisch, denn ich hatte so früh am Morgen noch keine Lust auf unnötigen Small-Talk. (9/10)
Das ältere Paar auf Reisen – Tag 2
Der Tag begann nicht optimal. Blick auf das Smartphone; 6:30 Uhr. Es blieben gerade noch 15 Minuten, um zu duschen und zu frühstücken. „Joel, das wird heute richtig knapp!“, dachte ich. Dennoch hatte ich Glück und erwischte den Zug. Bald bemerkte ich, dass ich mit meinen Gegenübern doppeltes Glück hatte! Ich durfte mich zu einem älteren Ehepaar dazusetzen, welches eine prächtige Wanderwoche im Wallis verbrachte. Der ältere Herr Viktor suchte direkt das Gespräch: „Studierst du in Bern?“ Damit brach er das Eis und so unterhielten wir uns während der nächsten Stunde ununterbrochen über Gott und die Welt. Die Dame verabschiedete sich mit den Worten: „Mach auch mal Pause, junger Mann!“ Eine tolle Begegnung! (10/10)
Das Pärchen – Tag 3
Nach zwei Tagen heile Welt setzte ich mich auf dem Rückweg des dritten Tages gegenüber einem Pärchen. Im Nachhinein halte ich fest: „Das war ein Fehler.“ Schatz hier, Bärchen dort und dies gepaart mit innigen Küssen. Klar gönnen wir Pendler euch eure Beziehung, jedoch wäre ein wenig Rücksicht gewünscht. Und übrigens dachte sich der Kerl wohl: „Warum sitzen, wenn ich auch liegen kann?“ Es ist wohl cooler. Gewiss parkiert in der Garage des Jungen ein BMW. Nein falsch, in der Garage des Vaters und sein BMW. Denn es scheint, als ob er ein ziemlich verwöhnter Bengel ist. Was findet sie bloss an solch einem Typ? Na klar doch, Daniela ist nur dem Geld nach. Würde zum Lippenstift und ihrer Gucci-Tasche im Schrank perfekt passen. (3/10)
Schlafe tief und fest – Tag 4
Das habe ich echt noch nie erlebt. Schon als ich am Bahnhof in Bern in den Zug einstieg, schlief mein Gegenüber tief und fest. Ganz leise kroch ich auf meinen Platz. Weder in Thun, Spiez noch eine Stunde später in Visp öffnete die Frau ihre Augen. Ich wunderte mich, ob sie eventuell ihren Endbahnhof schon lange verschlafen hat. Vielleicht hat sie ja eine lange Party-Nacht hinter sich? Und eventuell mischte ihr dort irgendein Typ eine Substanz in ihren Cocktail. Was würde wohl passieren, wenn ich sie einfach wecken und gemütlich ein Gespräch in die Runde lanciere würde? Besser nicht, denn wer weiss, wie sie reagiert, wenn sie einfach eine fremde Person weckt. Aber es traf sich eigentlich ganz gut, denn so konnte ich noch einige E-Mails bearbeiten und die Literatur zur Kommunikation lesen. Danke Schläferin! (8/10)
‚En güete’! –Tag 5
Ich möchte festhalten, dass ich 23 Jahre alt und daher auch relativ oft hungrig bin. Ich rede gerne über Essen oder koche selber. Dennoch, liebe Frau Gegenüber, roch deine Mahlzeit so schrecklich, dass ich mich wirklich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren konnte. Ich hoffte ja noch, dass du in Thun aussteigen würdest. Jedoch hast du beschlossen, die Mahlzeit bis ins Wallis zu geniessen. Eine Fahrt zum Vergessen. (1/10)
Angry Birds auf Volume 200 – Tag 6
Nach dem gestrigen Desaster freute ich mich, dass ich nach acht Stunden Schule auf dem Heimweg war. Ich setzte mich zu einer Mutter und ihrer Tochter im Teenager Alter. Diese war offensichtlich ziemlich stolz auf sich selber, dass sie die Levels des Smartphone-Spiels ‚Angry Birds’ überstand. Dies wäre ja an sich kein Problem gewesen. Jedoch dachte sich die junge Dame wohl: „Hey, es ist doch unfair, dass nur ich solchen Spass am Spiel habe. Also lasse ich den Ton doch laut aufgedreht.“ Immer und immer wieder hörten wir daher die nervige Titelmusik, du hast sie bestimmt schon jetzt im Ohr, sorry, und die Geräusche der Vögel, wie sie die Schweine zerstörten. Wie die Mutter dazu ruhig ein Buch lesen konnte, ist mir bis heute ein Rätsel. Zum Glück hatte ich meine Kopfhörer dabei. Nicht alle hatten solches Schwein wie ich. (3/10)
Disco in der SBB? – Tag 7
Mein Experiment ist nun schon eine Woche alt. Zwischenfazit: Der Schnitt aus den Begegnungen beträgt zurzeit 5.6 von 10 Punkten. Nicht gerade ein rosiges Resultat. Habe ich meine Reisepartner zu hart bewertet? Nun gut, denke ich, so will ich heute mal nicht spiessig sein. Ich setzte mich auf dem Weg nach Bern zu einem jungen Herr. Neben der Schule besucht er mit diesen riesen Schultern bestimmt mehrmals wöchentlich den Kraftraum. Was fehlt jedoch einem Kraftkerl mit einem Energydrink, welcher noch nicht richtig wach ist? Genau, eine laute Portion Dubstep. Der Techno-Sound drang durch seine Kopfhörer durch. Jedoch traute sich niemand, den Bodybuilder darauf anzusprechen. 3/10. Ach nein, heute bin ich ja grosszügig. Also 5/10.
Keine Rose für dich – Tag 8
Okay, ich gebe es ja zu, dass es nicht die beste Idee war, sich an einem Mittwoch zu zwei Kolleginnen zu gesellen. Denn neben Lippenstift und Handtaschen war das Fernsehprogramm für den Mittwochabend definitiv fixiert, komme was wolle. Der Bachelor! Dies machten die Ladys gleich zum Thema und lästerten über sämtliche Damen in der Sendung und schwärmten zugleich vom ‚Mister Perfekt.‘ Den zwei Lästertanten zuzuhören war dennoch eine amüsante Erfahrung, auch wenn ich mich am Gespräch nicht wirklich beteiligen konnte. (5/10)
Ich arbeite; nicht! – Tag 9
Die Situation ist folgende: Vor mir sass eine junge Frau mit einem Laptop. Ist sie am Arbeiten? Nein! Sie musste nämlich hie und da ziemlich laut lachen und dies bestimmt nicht wegen BWL-Literatur. Ihr Lachen steckte unheimlich an! Sie klärte mich dann auf: „Entschuldigung aber diese Simpsons-Sendung ist einfach der Hammer!“ Sie zeigte mir ein paar Szenen, welche wirklich ein paar gute Gags eingebaut hatten. Die Fahrt zurück ins Wallis verging so echt wie im Flug! Danke (10/10)
Und das wäre dann ich – Tag 10
In den letzten neun Tagen bewertete ich meine Gegenüber. Wer jedoch mit einem Finger auf Menschen zeigt, muss sich bewusst sein, dass mindestens drei auf sich zurückzeigen. So will auch ich mich bewerten lassen. Dies überlasse ich dann dir.
Also, wie beschreibe ich mich selber als Reisepartner? Ich habe meistens sehr viel um die Ohren. Daher nutze ich die zwei Stunden im Zug, um zu arbeiten. Ich habe nicht nur viel um aber auch auf den Ohren, denn ohne Kopfhörer sieht man mich im Zug höchst selten. Ab und zu schaue ich eine Folge meiner Lieblingsserie Silicon Valley und bin nicht zu scheu auch mal ganz laut durch den Zug zu lachen. Dennoch bin ich sehr gerne für ein interessantes Gespräch bereit. Also nur zu!
(tw)