Helden unserer Zeit

Der Wind pfeift durch die löchrigen Fenster. Die Scheiben sind milchig. Es ist kalt, bitterkalt. Der Blick nach innen in das warme und gemütliche Wohnzimmer zeigt, wie schön das Leben sein kann. In der Ecke, gleich links neben dem mit roten Wärmeplatten verkleideten Schwedenofen, steht eine prachtvolle Nordmanntanne. Geschmückt mit wundervollen Kugeln. Alle von Hand geblasen und mit wunderbaren Handmalereien verziert. Das Lametta liegt auf dem untersten Ring der aufgestellten Weihnachtstanne.

Gleich darunter, im Schutz der Tannennadeln, liegen Geschenke bereit.
Grosse und kleine mit hübschen Maschen in Silber und Rot. Ein traumhafter Anblick. Grundsätzlich.

 

Der Blick schweift nach rechts zum schwarzen Sofa. Ein hübscher, junger Mann sitzt mit gesenktem Kopf da. Der rote Pullover mit Sternen hat kleine Flecken. Es sind Salzflecken. Flecken von Tränen. Die dunklen Augenringe zeigen, dass er viel weint. Er ist entkräftet und immer wieder den Tränen nahe.

Es poltert aus dem Treppenhaus. Schreie ertönen und die Türe öffnet sich. Ein Kind betritt das Wohnzimmer und läuft direkt zum jungen Mann. Es ist ein kleines Mädchen mit braunen Haaren und Sommersprossen. Sie drückt Ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und schaut ihm mit Ihren grüngrauen Augen kurz in die Augen. Mit dieser Geste kann Sie ihm ein kleines Lächeln entlocken und er nimmt sie zu sich und hält sie ganz fest in seinen Armen. Sie löst sich ein wenig, nimmt die Hand ihres Vaters und zieht ihn mit nach draussen. Der junge Mann löscht noch kurz die zwei Kerzen, welche er auf dem Tisch angezündet hatte und folgt danach seiner süssen Tochter.

Man sieht die Schatten über den Schnee fallen, als sie durch die Lichter des Hauses gehen. Das Mädchen steuert direkt auf Ihr kleines aber feines Kinderzimmer zu. Ein Prinzessinnenzimmer. Ganz in der Ecke des Hauses hat sie ihr rosa Nest. Sie öffnet die Türe und zieht ihren Vater mit ihren zarten und zierlichen Händen ins Zimmer. Sie legt sich ins Bett und ihr Vater setzt sich neben sie auf den Bettrand. Er sitzt mit einem Lächeln neben seiner Prinzessin. Die Flecken der Tränen sind schon fast getrocknet und nicht mehr zu erkennen.

Unter dem Bett liegt das kleine, braune Büchlein, welches der Tochter im Kopf rumgeistert. Ein altes Geschichtenbuch, das schon einigen Generationen in den Schlaf geholfen hat. Das Buch ihrer Mutter.

Der Vater greift langsam zum Buch und nimmt es vorsichtig zu sich auf den Schoss. Mit der Handfläche fährt er langsam über das Cover und spürt die vielen Unebenheiten und Gebrauchsspuren. Er blättert in den Seiten. Er schlägt das Buch fast am Ende auf. Er beginnt: «Es war einmal…»

Fast 20 Minuten liest er seiner Tochter aus dem Büchlein vor. So lange, bis sie Ihre Augen schliesst und langsam in die Traumwelt versinkt. Ruhig und sorgenfrei steht er nun auf, gibt der Tochter einen kleinen Kuss auf die Wange, deckt sie richtig zu und geht leise aus dem Zimmer. Er schliesst hinter sich vorsichtig die alte Holztür zum Schloss seiner Prinzessin und bleibt einen Augenblick kurz stehen.

Wieder sind es Tränen, die seine Augen glänzen lassen. Die erste Träne kullert über seine Wange und er begibt sich müden Schrittes wieder zurück in das Wohnzimmer. Auf dem Weg dorthin öffnet er noch den alten Eichenschrank, der im Gang steht. Sein Hochzeitsgeschenk. «In Liebe ewig verbunden» steht auf der schweren Tür. Aus dem Inneren holt er eine Flasche Whisky heraus. Dunkelbraun und in einer bauchigen Flasche. Er nimmt sie mit ins Wohnzimmer und setzt sich mit ihr an den Esstisch. Ein Glas scheint ihm nicht wichtig zu sein. Er nimmt einen Schluck und stellt die Flasche neben sich auf den Tisch und schnappt sich die Zeitung, die in der linken Ecke des Glastisches liegt. Eine alte Zeitung. Eine Woche alt.

Als er die Zeitung öffnet, blickt er sofort auf die Todesanzeigen auf Seite 13. Die Todesanzeige einer jungen Mutter sticht ins Auge. Die Anzeige ist liebevoll gestaltet. Er schliesst seine Augen und schweift mit den Gedanken zurück ins Zimmer seiner Tochter, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Er wischt sich erneut einige Tränen aus den Augen. Viele Tränen. So viele Tränen, dass die Tinte auf der Zeitung zu verschwimmen beginnt. Er muss das Papier weglegen und wendet sich nun der Post zu.

«Lieber Klaus,
wir kondolieren dir von ganzem Herzen zum Verlust deiner über alles geliebten Andrea. Für die kommenden Monate wünschen wir dir Kraft, Stärke und Energie, die Hürden für dich und die kleine Sofie zu meistern.
In tiefem Beileid,
Thomas und Erika»

Nach einem kräftigen Schluck aus der mittlerweile schon halb leeren Flasche Whisky nimmt er eine weisse, neutrale Karte und beginnt mit der Antwort:

«Lieber Thomas, liebe Erika,
danke für eure schönen Worte. Danke für das Beileid.
Für Sofie werde und muss ich stark sein. Sie ist mein Ein und Alles und meine kleine Andrea…
Viele Grüsse
Klaus»

Er packt die Karte in ein Couvert und beschriftet sie mit der richtigen Adresse. Wieder fallen einige Tränen auf das Papier. Es ist Ihm egal. Er hat keine Energie mehr. Er steht auf, läuft am Weihnachtsbaum vorbei und blickt auf die Geschenke, löscht das Licht und geht erneut den Gang herunter. Bei der Türe der kleinen Sofie bleibt er kurz stehen und wirft einen Blick ins Zimmer. Sie schläft. Alles ist ruhig. So kann er beruhigt ins Bett. Nun schliesst er erneut die Türe, wischt sich einmal mehr eine Träne aus den Augen und geht zum Schlafzimmer. Auf dem kurzen Weg dorthin beginnt er zu flüstern. Immer wieder dieselben Worte kommen über seine Lippen. «Für sie muss ich stark sein. Für sie muss ich stark sein. Für sie muss ich stark sein».

(fs)

Kritik
von Raphael Schmitz

Idee
Die Idee zum schreiben dieser Weihnachtsgeschichte hatte ich während meinen Ferien in Wien. Wien ist eine Stadt, die ziemlich auf Weihnachten steht. Es gibt mehrere Weihnachtsmärkte und alles leuchtet und blinkt. Es scheint, als sei die ganze Welt glücklich und zufrieden. Leider herrscht aber vielerorts Leid und Krieg. Ich wollte dann mit dieser Geschichte auch auf andere Schicksale der Weihnachtszeit sensibilisieren und aufzeigen, dass nicht alles schön ist.

Schreiben
Beim Schreiben der Geschichte wollte ich zuerst eine klassische Weihnachtsgeschichte schreiben, um dann in der Mitten einen Storytwist einzubauen, damit der Leser etwas geschockter ist und mit der Thematik konfrontiert wird. Mit der detaillierten und beschreibenden Schreibweise wollte ich den Leser tief in die Geschichte einbinden und dadurch den Schockmoment nochmals verstärken.

Beitragsbild
Das Beitragsbild wurde nach dem Schreiben der Geschichte erstellt und ganz bewusst und klar provokativ gestaltet. Es mag sein, dass dies für viele Begutachtet von Digezz als "zu viel" erachtet wird, aber ich habe mich nach dem Motto "Any publicity is good publicity" dafür entschieden.

Fazit
Im Nachhinein betrachtet glaube ich, dass meine Geschichte für viele die Situation in der Welt wiederspiegelt. Es läuft auch zu so einer besinnlichen Weihnachtszeit nicht alles rund und es gibt Schicksale, welche mit all den Lichtern und Lämpchen nichts anfangen können. Wenn nur einige Gedanken an diese Personen gehen, hat die Geschichte seinen Zweck erfüllt.

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar