Ich habe einen Tag lang geschwiegen

Ich werde vom Wecker meines Freundes aus einem schönen Traum gerissen und will ihn am liebsten erwürgen, da er ihn nicht abschaltet, sondern weiterlaufen lässt, obwohl ich erst eine Stunde später aufstehen muss. Gerade als ich losmeckern will, fällt mir ein, dass ich heute schweigen werde. Deswegen erwürge ich ihn stumm. Geht doch.

Als ich eine Stunde später aufwache, ist niemand zu sehen, doch im Zimmer nebenan ist seine Mitbewohnerin wach. Ich gehe duschen und schlürfe ein bisschen Tee runter. Während ich aus der WG-Tür gehe, will ich ihr noch Adieu rufen, doch das lasse ich sein, da ich heute gar nichts sage.

Die Busfahrt zum Bahnhof ist stinknormal. Ausser ein paar kichernden Teenager-Mädchen schauen alle stumm auf ihr Smartphone. Niemand merkt, dass ich heute nichts sage.

Im Migros beim Bahnhof suche ich mir eine besonders orangene Kaki aus, lege sie auf die Waage und drücke die Nummer 71. Dies alles mache ich für mich alleine: ein reibungsloser, gesprächsfreier Ablauf.

Versinnbildlichung der Kaki

Versinnbildlichung der Kaki

Doch nun wird es doch das erste Mal heikel. Ich suche nach den Self-Check-Out-Kassen, doch – oh nein – am Basler Bahnhof gibt es keine! Besorgt, dass die Kassiererin mich als unfreundliche Schnepfe abstempelt, stelle ich mich am Schlangenende an. Normalerweise begrüsse ich die Verkäuferin freundlich und lächle ihr auch ins Gesicht, wie wir Dorfkinder halt erzogen wurden. Doch heute wird es unangenehm. Ich verabscheue Menschen, die Angestellte wie Luft oder Untertanen behandeln oder ihre schlechte Laune an ihnen auslassen, da diese sich das sowieso gefallen lassen müssen, wenn sie ihren Job behalten wollen.

Meine Kaki rollt immer näher zur Verkäuferin und schliesslich scannt sie sie ein. «Eins fünfundzwanig, bitte. Cumulus-Karte?», kommt aus ihrem rotgeschminkten Mund. Ich schüttle den Kopf, lächle wie gestört, um mein unfreundliches Schweigen zu kompensieren, und krame einen Franken und fünfundzwanzig Rappen aus meinem Portemonnaie. «Zätteli?», fragt sie und hebt eine ihrer dünngezupften Augenbrauen. Wieder schüttle ich meinen Kopf, nehme die Kaki und verlasse erleichtert die Migros. Puuuh! Die erste Hürde wäre geschafft! Ich schaue auf mein Handy und sehe, dass es erst neun Uhr morgens ist. Das wird ein verdammt langer Tag.

Meine Kaki und ich machen uns auf den Weg zum Gleis 9. Interregio Richtung Olten. Ich schlendere die Treppe herab, wie jemand der schweigend die Treppe herab schlendert, ein wenig verträumt und doch nicht allzu langsam, da ich den Zug nicht verpassen will. Ich schaue in die Ferne und betrachte den schönen alten Bahnhof, der mir immer wieder ein Lächeln auf das Gesicht zaubert, wenn mir einfällt, dass es dort aufgrund Aberglaubens kein Gleis 13 gibt. Wusstest du das?

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Quasi eine Bahnhofshalle

«Wissen Sie, ob es in diesem Zug einen Speisewagen gibt!??», raunzt mich eine alte dicke Dame lautstark an. Soviel zu gelernter Freundlichkeit. In meinem Kopf denke ich: «Sehe ich aus wie eine Angestellte der SBB?! Oder wie ein Eisenbahnfreak?! Quatsch mich nicht so harsch von der Seite an, du fette Gans! Auch wenn es einen Speisewagen gäbe, für dich gibt es dort nur Diabetes abzuholen.» Wiederrum schüttle ich lächelnd den Kopf und begebe mich auf die andere Seite des Gleises, um mich ihrer Gesellschaft zu entziehen.

Der Rest der Reise verlief gesprächsfrei, obwohl ich eigentlich sehr gerne mit fremden Menschen quatsche, aber heute erledige ich längst überfälliges Schulzeugs. Als die Kontrolleurin mein GA sehen will, mache ich von meiner Standardmimik gebrauch: Lächeln, lächeln, lächeln.

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Solche Fahrgäste kann man im Zug antreffen

In Burgdorf angekommen, warte ich beim Dönerhäuschen auf meine Mitstudentin Tania. Wir werden an einem Schulprojekt über Informatik bei einer anderen Studentin zu Hause namens Laura arbeiten. Nachdem ich Tania nach ihrer Ankunft keine Antworten geben kann, findet sie durch besorgtes Fragen heraus, weshalb ich nicht spreche. Während wir zu Laura heim schlendern, merke ich, wie viel aufmerksamer ich bin. Anstatt ihr zuzustimmen und eine eigene Geschichte zu erzählen, höre ich ihr bewusst zu und fokussiere mich nur auf sie.

Am Projekt selbst, sind beide total genervt, dass ich nicht mitreden würde. Laura bekommt die totale Krise und schreit mich laut an: «Kannst du nicht einfach reden?! Es nervt so!!»

Falls du auch auf die Idee kommen könntest, einen Tag lang zu schweigen, mach es nicht an einem Gruppenprojekt-Tag. Nur so eine Empfehlung am Rande. Ich kommunizierte vor allem mit Gesten, aber auch via Schreiber und Block, falls die Gesten nicht ausreichten. Die Grundantworten wie «Danke» und «OK» habe ich auf zwei kleine Zettelchen geschrieben und ihnen unter die Nase gehalten, falls sie benötigt wurden. Irgendwie funktionierte die Kommunikation zwischen uns dreien, aber ich glaube das liegt nur daran, dass wir ein eingespieltes Team sind.

Etwa so verlief die Gruppenarbeit zum Thema Interaktive Medien

Etwa so verlief die Gruppenarbeit zum Thema Interaktive Medien

Im Zug nach Hause ist es wieder unheimlich still. Nicht einmal die Bier trinkenden Jugendlichen reden. Sie nippen nur an ihren Dosen und starren auf ihr Smartphone oder ins Leere.
Gerade als mir auffällt, wie einfach das Leben ohne Reden heute ist, betritt ein lustiges Duo das Zugabteil. Ein kleiner älterer Herr und eine junge Frau mit einer rassigen Frisur. Kontrolleure halt. Ich greife in meinen Rucksack und suche mein Portemonnaie. Doch, wo ist es? Sonnenbrille, Laptop, iPod, alles da – nur mein Portemonnaie nicht! Scheisse, ich habe es wahrscheinlich bei Laura liegen gelassen.

Wie erkläre ich nun den SBB-Detektiven, dass ich einen SwissPass besitze? In Scharade war ich immer überdurchschnittlich gut, doch finden die das auch witzig? «Alle Billette, bitte.» Ich werde knallrot und versuche eine Geste zu machen, welche bedeuten soll: «Ich habe mein GA vergessen.» Der ältere Herr schaut mich verdutzt an: «Do you speak English?». Die Situation ist verdammt unangenehm und ich fühlte mich richtig verloren. Einen Moment lang zögere ich und will meinen Selbstversuch sausen lassen. 200 Franken anstatt 5 Franken Busse ist das Schweigen nicht wert. Gerade als ich aufgeben will, kommt mir die Idee: Mein Smartphone!

Oh, geliebtes Handy, du rettest mir meinen Selbstversuch! Ich krame es hervor und tippe meine Situation in die Notizen und zeige es dem Kontrolleur. Er runzelt die Stirn, schüttelt den Kopf und luchst mir fünf Franken für mein vergessenes Abo ab. Zuhause angekommen verkrieche ich mich im Bett unter der Decke und denke über meinen Tag nach.

Ich, wieder im Bett

Ich, wieder im Bett

Alles in allem ist es heutzutage einfach zu schweigen. Manchmal fühlt man sich ausgeschlossen, da man seinen eigenen Senf nicht dazugeben kann, aber für eine Quasselstrippe, wie ich es eine bin, ist dies eine bereichernde Erfahrung. Probiere es auch mal aus, I dare you!

(le)

Kritik
von Miriam Barner

Idee
Selbstversuche sind für mich extrem spannende Experimente, welche den Alltag spannender gestalten. Diesmal probierte ich einen Tag lang nicht zu reden und meine Erfahrungen schriftlich festzuhalten.

Learnings
Für das nächste Mal werde ich einen actionreicheren Tag aussuchen, eventuell mit Ausgang, damit das ganze ein bisschen spannender wird.

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