Über dem Eingang des gegenüberliegenden Kinos war eine neue Reklametafel angebracht worden. Die Werbung darauf pries das Angebot eines bekannten französischen Getränkeherstellers und ihre flackernden Lettern tauchten Laurence’s Schlafzimmer in unregelmässigen Abständen für einen kurzen Moment in ein fahles Blau. Plötzlich wurde die Violinistin vom Gefühl einer inneren Ruhelosigkeit ergriffen. Laurance zog hastig ihre Schuhe und ihren Regenmantel an und eilte zum Eingang des alten Filmtheaters.
Es war weit und breit niemand zu sehen. Dennoch stand die Türe des Salon Buñuel weit offen. Zögernd näherte sich Laurance dem einladenden, warmen Licht, welches aus dem Innern des Kinos drang. Ob es eine gute Idee war, so spät noch eine Vorführung zu besuchen? Auf einmal spürte sie eine leichte Beklommenheit. Das Viertel, in dem das in die Tage gekommene Lichtspielhaus lag, gehörte zu den heruntergekommeneren Gebieten der Stadt. Es war klüger, in solchen Gegenden nach Anbruch der Dunkelheit keinen Fuss vor die Haustüre zu setzen. Wer wusste, was für zwielichtige Gestalten nach Sonnenuntergang zwischen den modrigen Stühlen des finsteren Kinosaals lauerten? Laurence wollte gerade wieder umkehren, da fiel ihr Blick auf ein Poster an der Wand.
Wie angewurzelt blieb die junge Frau stehen. Dabei war es weniger das Motiv des Aushangs, welches sie plötzlich innehalten liess, sondern vielmehr der Umstand, dass dort überhaupt etwas hing. Sie ging schliesslich schon seit Jahren Tag für Tag an dem bröckelnden Gemäuer vorbei, und noch nie hatte sie ein Poster vor dem Kino gesehen. Abgesehen von der ständig wechselnden Reklameschrift schienen es seine Besitzer nicht für nötig zu halten, das Äussere des Gebäudes in irgendeiner Form zu verändern. Laurance war sich sicher: Auch als sie vor wenigen Stunden nach Hause gekommen war, waren die Wände des Kinos noch gänzlich unbedeckt gewesen.
Das Poster musste also erst nach Einbruch der Nacht dort angebracht worden sein. Dennoch schien es vergilbt und abgenutzt, als würde es schon seit Jahren an dieser Wand hängen. Klar, der Nieselregen hatte es aufgeweicht und das trübe Leuchten der Strassenlaternen liess es unheimlich schimmern. Aber insgeheim wusste Laurance, dass auch etwas an dem Bild selbst seltsam war. Nur was genau das war, konnte sie sich nicht erklären. Fasziniert und energisch schritt sie unter dem Türrahmen hindurch und betrat das Foyer.
Es war komplett unbesucht. Der Platz an der Kasse war nicht besetzt, und vor dem Eingang zum Saal herrschte ebenso gähnende Leere. Aus den Lautsprechern an der Decke ertönte zwar blechern ein leiser Chanson, doch vermochte dieser nicht, dem verlassen wirkenden Raum Leben einzuhauchen. Laurance durchquerte ihn und fragte sich für einen kurzen Moment, ob der Kassier wohl gerade auf der Toilette war. Dann fasste sie den Entschluss, sich kurz in einem Kinositz aufzuwärmen, um anschliessend wieder zurück ins Bett zu gehen. Also setzte sie sich in die hinterste Reihe des Kinosaals. Auch hier hielt sich kein Mensch auf. Die dunkelgrünen Sessel hatten ihre besten Tage schon hinter sich. Von vielen löste sich bereits der Stoff und der darunter befestigte Draht kam zum Vorschein. Gerade, als Laurence es sich gemütlich gemacht hatte, ging das Licht aus. Wie von Geisterhand hob sich der Vorhang und auf der verblichenen Leinwand vor ihren Augen begann ein Film zu spielen.
Das Bild wurde schwarz und der Vorhang schloss sich. Mit einem leisen Knistern schalteten sich die alten Lampen an den Wänden wieder ein. Laurance stand auf. Obwohl kaum zehn Minuten vergangen waren, seit sie das Kino betreten hatte, fühlte sie sich, als hätte sie bereits die ganze Nacht in dem alten Saal verbracht. Irritiert vom Gesehenen lief sie leicht taumelnd zurück durch das Foyer nach draussen. Es regnete noch immer, doch Laurance dachte nicht daran, die Kapuze ihres Mantels hochzuziehen. Wenige Augenblicke später fiel sie mit leicht durchnässtem Haar todmüde in ihr Bett.
Ihr Schlaf war unruhig und von Träumen durchsetzt. Als sie am nächsten Tag erst gegen Mittag erwachte, war sie sich nicht mehr sicher, ob ihr nächtlicher Besuch im Kino nicht ebenfalls nur eine Einbildung gewesen war. Nach einer Tasse Kaffee eilte sie verspätet zur Metro. Dabei fiel ihr überhaupt nicht auf, dass die Aussenwände des Salon Buñuel wieder komplett leer waren.