Le déchaînement de Balthasar Kramer

Es war kurz vor Mitternacht, als Laurance aufwachte und aus dem Fenster sah. Sie erwartete, den Vollmond zu erblicken, der ein bleiches Tuch über die Rue Galande gelegt hatte und dessen Schein sie immer einmal im Monat aus ihrem Schlaf riss. Doch der Himmel war wolkenverhangen. Von grauen Nebelschwaden durchzogen prasselte feiner Regen auf die Strassen und Dächer der Pariser Innenstadt. Laurance gähnte. Dann trat sie näher an das Glas, welches ihre vertraute Wohnung von der dunklen und unheimlichen Nacht trennte.

Über dem Eingang des gegenüberliegenden Kinos war eine neue Reklametafel angebracht worden. Die Werbung darauf pries das Angebot eines bekannten französischen Getränkeherstellers und ihre flackernden Lettern tauchten Laurence’s Schlafzimmer in unregelmässigen Abständen für einen kurzen Moment in ein fahles Blau. Plötzlich wurde die Violinistin vom Gefühl einer inneren Ruhelosigkeit ergriffen. Laurance zog hastig ihre Schuhe und ihren Regenmantel an und eilte zum Eingang des alten Filmtheaters.

Es war weit und breit niemand zu sehen. Dennoch stand die Türe des Salon Buñuel weit offen. Zögernd näherte sich Laurance dem einladenden, warmen Licht, welches aus dem Innern des Kinos drang. Ob es eine gute Idee war, so spät noch eine Vorführung zu besuchen? Auf einmal spürte sie eine leichte Beklommenheit. Das Viertel, in dem das in die Tage gekommene Lichtspielhaus lag, gehörte zu den heruntergekommeneren Gebieten der Stadt. Es war klüger, in solchen Gegenden nach Anbruch der Dunkelheit keinen Fuss vor die Haustüre zu setzen. Wer wusste, was für zwielichtige Gestalten nach Sonnenuntergang zwischen den modrigen Stühlen des finsteren Kinosaals lauerten? Laurence wollte gerade wieder umkehren, da fiel ihr Blick auf ein Poster an der Wand.

Wie angewurzelt blieb die junge Frau stehen. Dabei war es weniger das Motiv des Aushangs, welches sie plötzlich innehalten liess, sondern vielmehr der Umstand, dass dort überhaupt etwas hing. Sie ging schliesslich schon seit Jahren Tag für Tag an dem bröckelnden Gemäuer vorbei, und noch nie hatte sie ein Poster vor dem Kino gesehen. Abgesehen von der ständig wechselnden Reklameschrift schienen es seine Besitzer nicht für nötig zu halten, das Äussere des Gebäudes in irgendeiner Form zu verändern. Laurance war sich sicher: Auch als sie vor wenigen Stunden nach Hause gekommen war, waren die Wände des Kinos noch gänzlich unbedeckt gewesen.

Das Poster musste also erst nach Einbruch der Nacht dort angebracht worden sein. Dennoch schien es vergilbt und abgenutzt, als würde es schon seit Jahren an dieser Wand hängen. Klar, der Nieselregen hatte es aufgeweicht und das trübe Leuchten der Strassenlaternen liess es unheimlich schimmern. Aber insgeheim wusste Laurance, dass auch etwas an dem Bild selbst seltsam war. Nur was genau das war, konnte sie sich nicht erklären. Fasziniert und energisch schritt sie unter dem Türrahmen hindurch und betrat das Foyer.

Es war komplett unbesucht. Der Platz an der Kasse war nicht besetzt, und vor dem Eingang zum Saal herrschte ebenso gähnende Leere. Aus den Lautsprechern an der Decke ertönte zwar blechern ein leiser Chanson, doch vermochte dieser nicht, dem verlassen wirkenden Raum Leben einzuhauchen. Laurance durchquerte ihn und fragte sich für einen kurzen Moment, ob der Kassier wohl gerade auf der Toilette war. Dann fasste sie den Entschluss, sich kurz in einem Kinositz aufzuwärmen, um anschliessend wieder zurück ins Bett zu gehen. Also setzte sie sich in die hinterste Reihe des Kinosaals. Auch hier hielt sich kein Mensch auf. Die dunkelgrünen Sessel hatten ihre besten Tage schon hinter sich. Von vielen löste sich bereits der Stoff und der darunter befestigte Draht kam zum Vorschein. Gerade, als Laurence es sich gemütlich gemacht hatte, ging das Licht aus. Wie von Geisterhand hob sich der Vorhang und auf der verblichenen Leinwand vor ihren Augen begann ein Film zu spielen.

Das Bild wurde schwarz und der Vorhang schloss sich. Mit einem leisen Knistern schalteten sich die alten Lampen an den Wänden wieder ein. Laurance stand auf. Obwohl kaum zehn Minuten vergangen waren, seit sie das Kino betreten hatte, fühlte sie sich, als hätte sie bereits die ganze Nacht in dem alten Saal verbracht. Irritiert vom Gesehenen lief sie leicht taumelnd zurück durch das Foyer nach draussen. Es regnete noch immer, doch Laurance dachte nicht daran, die Kapuze ihres Mantels hochzuziehen. Wenige Augenblicke später fiel sie mit leicht durchnässtem Haar todmüde in ihr Bett.

Ihr Schlaf war unruhig und von Träumen durchsetzt. Als sie am nächsten Tag erst gegen Mittag erwachte, war sie sich nicht mehr sicher, ob ihr nächtlicher Besuch im Kino nicht ebenfalls nur eine Einbildung gewesen war. Nach einer Tasse Kaffee eilte sie verspätet zur Metro. Dabei fiel ihr überhaupt nicht auf, dass die Aussenwände des Salon Buñuel wieder komplett leer waren.

 

Kritik
von Aline Gsell, David Guidali und Nicolas Franken

Une expérience créative

Immer dann, wenn sich ein Lebensabschnitt langsam seinem Ende zuneigt, ist die Zeit gekommen, das Vergangene nochmals Revue passieren zu lassen und in einem letztmaligen Aufbäumen alles Gelernte bei der Schaffung eines finalen Kunstwerkes anzuwenden, bevor man sich frohen Mutes auf den Weg in eine noch unbekannte Zukunft begibt. Diesem Gedankengang folgend, wollten wir im Hinblick auf unser baldiges Studienende noch einmal richtig Gas geben und unsere Kreativität sprudeln lassen. Schliesslich stand das kontrollierte und durchgeplante Arbeiten im Bachelorsemester vor der Türe, und es war und ist noch immer ungewiss, ob sich uns jemals wieder die Gelegenheit zu wirklich fantasievollen Wirken bieten wird. Somit entschieden wir uns, die Erfahrungen der vergangenen Studienjahre in einem letzten, ganz speziellen Film zu manifestieren.

Doch nicht nur die Geschichte, die wir erzählen wollten, sollte ungewöhnlich sein - auch das Ausdenken und zu Papier bringen derselben entsprach nicht dem herkömmlichen Vorgehen. An einem schönen Herbstabend trafen wir uns in einem unserer Lieblingspubs zu einer ganz besonderen Art des Brainstormings, das wie folgt ablief:

  • Zuerst entschieden wir uns für sechs verschiedene Stichworte: Feuer, Furcht, Liebe, Freiheit, Wahn und Trauer.
  • Anschliessend teilten wir den jeweiligen Themen jeweils eine A4-Seite Papier zu, wobei jedes Papier eine andere Farbe besass.
  • Nun begannen wir, jeweils einen Satz auf die Blätter zu schreiben und diese danach im Kreise rotierend weiterzugeben. Bis auf den letzten Satz wurden dabei alle vorherigen Sätze abgedeckt, so dass jeder Schreibende jeweils nur den zuletzt geschriebenen Satz seines Nachbarn lesen konnte und die Geschichte aufgrund dessen weiterentwickeln musste.
  • Schlussendlich lasen wir uns die Kurzgeschichten gegenseitig vor und entschieden uns, diejenige Story, welche zum Thema Freiheit entstanden ist, in einem Film umzusetzen.

Die Originale der Kurzgeschichten sind hier zu finden. Eine Transkription derselbigen befindet sich hier.

À l’ombre des montagnes

Der Dreh unseres Experiments fand in den Bündner Alpen statt. Ein grosses, über 500 Jahre altes Familienhaus mit seinen Kellern, dem anliegenden Stall und den umgebenden Wäldern sollte der Schauplatz für unsere Produktion sein. Im Schatten der Berge liessen wir unserer Kreativität freien Lauf. Da wir kein striktes Drehbuch oder Storyboard besassen, waren wir an viel weniger Vorgaben und Schranken gebunden als dies bei unseren bisherigen Filmen der Fall war. Unser einziger Orientierungspunkt war die zuvor geschriebene, kurze Fortsetzungsgeschichte sowie einige Sätze, die wir uns vor dem Dreh bezüglich filmischer Umsetzung aufgeschrieben hatten.

Es bereitete es uns viel Freude, einmal mit einem freieren, experimentellen Ansatz arbeiten zu können. Jedoch schwebte dabei stets eine gewisse Ungewissheit in unseren Gedanken mit, denn wir waren uns auch während des Drehs nicht genau darüber im Klaren, wohin uns unsere Idee schlussendlich führen würde. Hinzu kamen die schwierigen Lichtverhältnisse und das frühe Einsetzen der Dämmerung, welche den Dreh in den Bergen nicht immer einfach machten.

La cinéma surréaliste

Die Nachbearbeitung der geschossenen Szenen und das Zusammenfügen der Einzelteile zu einem grossen Ganzen war dann auch der schwierigste Teil unseres Vorhabens. Da wir keine exakten Vorgaben zum Endprodukt besassen, hatte jedes Gruppenmitglied seine eigenen Vorstellungen von dessem Aussehen, und wir mussten uns auf einen einheitlichen Ablauf der Geschehnisse einigen. Auch bezüglich technischer Aspekte wie dem Color Grading, der Schnittfolge, der einzusetzenden Musik usw. mussten wir zuerst in einigen Diskussionen einen entsprechenden Konsens finden. Da wir jedoch glücklicherweise in der Vergangenheit bereits einige andere Projekte zusammen realisieren konnten, erwiesen wir uns als eingespieltes Team und hatten wenig Mühe, aufkeimende Konflikte umgehend zu bewältigen.

Herausgekommen ist ein surrealer Film, der Grenzen überschreitet und zuweilen verstörend, des Öfteren ein wenig wirr und manchmal gar trashig daherkommt, oder um es neudeutsch auszudrücken: Ein richtiger Brainfuck. Dieser orientiert sich dabei lose an den Klassikern von Luis Buñuel und Salvador Dali, gepaart mit dem cineastischen Nonsense eines Quentin Dupieux und den wilden stilistischen Ausschweifungen eines Gaspar Noé.

Résumé

Wir denken, die wichtigste Lektion die wir gelernt haben ist die Erkenntnis, dass man sich auch bei konventionellen Produktionen vielleicht nicht immer ganz so strikt an früher getätigte Vorgaben halten sollte und zu viele Regeln und Schranken den kreativen Prozess stark behindern können. Auch im filmischen Bereich kann der Prozess des Design Thinkings über die komplette Zeitdauer einer Produktion angewendet werden, was zu erstaunlichen Ergebnissen führen kann. Man darf nur nicht erwarten, das mögliche Ergebnis bereits am Anfang der Umsetzung in konkreter Form vor Augen zu haben. Dies macht die Anwendung solcher Kreativitätsmethoden im realen Wirtschaftsumfeld natürlich schwierig, kann bei progressiven Unternehmen jedoch womöglich zu umso erfolgreicheren Resultaten führen.

Zusätzlich zu dieser Feststellung konnten wir selbstverständlich auch unsere technischen Fähigkeiten erweitern und unsere Teamfähigkeit fördern.

Was könnten wir beim nächsten Mal - welches es in dieser Form leider sehr wahrscheinlich nie geben wird - besser machen? Diese Frage ist besonders schwierig zu beantworten. Wir denken nicht, dass wir besonders viel besser machen könnten - wir könnten höchstens etwas anders machen. Wie dies mit der Kunst so ist, was “gut” und was “schlecht” ist liegt oftmals im Auge des Betrachters und ist objektiv nur schwer zu erfassen. Und da bei uns nicht nur das Produkt selbst, sondern auch der Weg zum Produkt einen starken künstlerischen und experimentellen Anstrich besass, ist es praktisch unmöglich zu sagen, was wir wirklich besser hätten machen können. Klar, uns sind einige technische Fehler unterlaufen, die wir in Zukunft versuchen werden zu vermeiden. Und selbstverständlich hätten wir noch mehr Zeit in das Filmen und in die Postproduktion stecken können, um noch mehr aus dem Film herausholen zu holen. Doch man kann immer noch etwas besser machen, und wir denken, dass wir mit dem Endprodukt sehr zufrieden sein und deshalb guten Gewissens den Weg in eine neue Zukunft gehen können.

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