Meine Stadt: Belgrad

Zwischen Baracken und Reinheit. Der pulsierende Riese Belgrad.

Einst verliehen grelle Kalksteinbauten der Stadt den Namen Belgrad (serb. Београд, Beograd), was so viel wie “weisse Stadt” bedeutet. Fährt man mit dem Auto über die südlichen Hügel und blickt von Oben auf die sich ausbreitende Metropole, ist von diesem Weiss nicht mehr viel zu sehen. Graue Blöcke erheben sich schweigend vor tiefhängenden Wolken. Smog wirft schemenhafte Karikaturen auf die Genex-Türme, welche als Tor zur Stadt ein Überbleibsel sowjetischen Architekturkannibalismus‘ bilden. Diese Bauten des Brutalismus scheinen einen zu verschlucken, ohne dabei zuzubeissen. Folgt man der Autobahn mitten durch die Stadt, passiert man Tunnel und Brücken, die meisten zerlöchert vom Bombenhagel Ende der 90er-Jahre. Links und rechts erheben sich Plattenbauten in bescheidenem Grau, abertausende Balkone mit stummen Gesichtern, die auf eine Stadt blicken, die nicht für sich wirbt. Belgrad ist keine schöne Stadt, aber vielleicht braucht Charakter keine Schönheit.

Zwei Sommer verbrachte ich in Belgrad. Als ich in schwülen Sommernächten lauschte, wie die Strassen mit riesigen Schläuchen abgespritzt wurden und das Brüllen der Maschinen von den Wänden der Altstadt widerhallend durch meine offenen Fenster kroch, hörte ich den schweren Atem der Stadt. In diesen Stunden liegt die Millionenstadt in einem unsteten Schlaf. Einen Schlaf, der sie durch die Belagerung der Osmanen trug, durch die Sowjetunion, durch den Balkankrieg. Ein Schlaf, der gleichzeitig ein Wachen ist, und aus dieser Schlafwache erhebt sie sich als reiner Koloss, wenn am Morgen die ausrangierten Basler Trams aufs Neue ihren ächzenden Trott aufnehmen.

Doch was wie leichter Schlaf tönt, ist in Wahrheit das stetige Rauschen von Leben, das in dieser Stadt geschieht. Der Puls einer immerwährenden Jugend. Nächte lang schweifte ich um die zahlreichen Boote in der Sava, die sich entlang Belgrad schlängelt und im Nordosten der Stadt in die Donau mündet. Bis in die späten Morgenstunden wird hier gefeiert und getanzt, mit festem Rhythmus das Fortbestehen der Stadt sichernd. Im alten Teil der Stadt bekommt man in riesigen Kellergewölben serbische Gerichte serviert und bis weit in die Agglomeration hinaus spiegelt sich am Himmel die Wachsamkeit von Spielsalon-durchzechten Nächten. Die Strassen füllen sich am Morgen dann mit den Arbeitern, Beamten, Selbstständigen, die den Schritt der heimkehrenden Jugendlichen aufnehmen und mit Lachen begrüssen. Hätte diese Stadt keine Jugend, gäbe es sie längst nicht mehr. Hätte sie keine Nacht, gäbe es hier längst keine Jugend mehr.

Während meiner Sommer in Belgrad habe ich oft nach Sehenswürdigkeiten gesucht, Reisebüros durchkämmt und Touristengruppen auf ihren Rundgängen verfolgt. Stets hoffte ich diesen speziellen Ort zu finden, der dem Besuch dieser Stadt einen Sinn geben würde. Streifgänge durch die Strassen brachten mich an Märkten und Museen vorbei, an Titos Grab und der Burg Kalemegdan, die sich im Ecken der Altstadt über die Sava und die Donau erhebt. In all diesem Gestöber nach verstaubten Attraktionen verlor ich mich zahlreiche Male in geschlossenen Parks und gesperrten Häuserruinen, und genau da liegt wohl das Gesicht dieser Stadt, das Herzstück, das immerwährende Teilchen Weiss, das so verloren schien.

Wenn mich jemand auf Belgrad anspricht, weiss ich nie, was ich antworten soll. Belgrad ist zu persönlich, um es zu schildern. Vielleicht auch, weil ein Teil des Pulses dieser Stadt früher oder später in den eigenen Adern schlägt.