Nummer 71978

Der spezielle Duft des Rauches, der von den Kaminen der Verbrennungsöfen in den Himmel über den Gefangenen stieg, hat sie noch immer in der Nase. Genauso wie das Gesicht des Todesengels Josef Mengele, das sich in ihr Hirn gebrannt hat, als er sie zum Sterben in die Gaskammern schickte. Es ist eine von tausenden Geschichten, wie sie Holocaust-Überlebende nach ihrer Befreiung erzählten. Die Geschichte einer Gefangenen, die leben wollte.

Vor 73 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Viele von uns kennen die Geschichte darüber. Sie wird in den Schulen gelehrt, von den Grosseltern erzählt und in Hollywood Blockbustern abgefeiert. Obschon wir die Gräueltaten kennen, die damals an der jüdischen Bevölkerung Europas begangen wurden, bleibt es für uns im Normalfall Geschichte. Längst vergangene Erzählungen, zu denen wir keinen Bezug mehr haben.

Doch es gibt Menschen unter uns, die werden diese Geschichte niemals vergessen. Denn diese Geschichte war und ist noch immer ihr Leben. Eine dieser Personen ist Nina Weil. Als junges, jüdisches Mädchen wurde sie von ihrem Zuhause in Prag deportiert. Zuerst ins Ghetto und Konzentrationslager von Theresienstadt, danach in andere Lager – unter anderem auch nach Auschwitz.

Heute gilt Nina Weil als eine der jüngsten Überlebenden des berüchtigten Konzentrationslagers. Und sie erzählt ihre Geschichte, damit diese nie vergessen wird. Als Gesicht für über sechs  Millionen Menschen, denen dies verwehrt blieb. Als Frau, die uns das Geschehene wieder näher bringt.  Als Gefangene Nr. 71978, die noch einmal Prag sehen wollte.

Die Filmaufnahmen sind im Auftrag der Gamaraal Foundation entstanden. Diese engagiert sich im Bereich der Holocaust Education und unterstützt bedürftige Holocaust-Überlebende.

(fms)

Kritik
von Martin Bruhin, Anja Ruoss und Sandro Derungs

Idee

Die ursprüngliche Idee des Projekts war eine Multimediareportage über das Konzentrationslager in Auschwitz. Martin, der das KZ im letzten Sommer selbst besuchte, wollte einerseits seine eigenen Eindrücke vor Ort schildern, andererseits aber auch Menschen befragen, die mit diesem Thema etwas zu tun haben. Dabei ging er davon aus, dass er im besten Fall mit jemanden sprechen darf, der in Auschwitz Verwandte oder Bekannte verloren hatte.

Bei seiner Recherche stiess Martin auf die Stiftung Gamaraal, die ihren Sitz in Zürich hat. Die Stiftung unterstützt in der Schweiz lebende, bedürftige Holocaust-Überlebende. Zudem betreibt sie die Wanderausstellung «The Last Swiss Holocaust Survivors», welche international präsentiert wird. Auf gut Glück kontaktierte Martin die Präsidentin der Stiftung, Anita Winter. Diese war sehr froh über die Anfrage. Denn die Stiftung setzt sich stark dafür ein, dass das Geschehene nicht vergessen wird. In ihrer Antwort an Martin betonte Winter, dass es sogar möglich wäre, mit Holocaust-Überlebenden selbst ein Interview zu führen. Dabei äusserte sie den Wunsch, das Ganze filmisch festzuhalten. Denn die Stiftung selbst hat keine Ressourcen, um die Holocaust-Überlebenden angemessen aufzunehmen. Dadurch sind Filmaufnahmen sehr rar und hoch geschätzt.

 

Organisation

Da das Projekt nun ganz andere Ausmasse annehmen würde, holte Martin völlig überrascht über die neuen Möglichkeiten Anja und Sandro ins Boot. Die Gruppe stellte sich darauf ein, einen Film zu drehen. In welchem Format dieser dann erscheinen sollte, würden aber die Aufnahmen entscheiden. Denn keiner von uns wusste, wie offen der oder die Holocaust-Überlebende von dem Geschehenen erzählen würde. Wird die Person in einem Interview überhaupt genügend Vertrauen zu uns aufbauen, um uns die ganze Geschichte zu erzählen?

Bevor wir aber das Interview drehen konnten, mussten die Formalitäten besprochen werden. Besonders wichtig war dabei der Kontakt von Martin zu Anita Winter. Da es leider noch immer Menschen gibt, die den Holocaust-Überlebenden Schaden zufügen wollen, musste er zuerst das Vertrauen der Präsidentin der Stiftung für sich gewinnen. Daneben beschäftigten wir uns vor allem damit, was für Fragen angemessen sind, bei einem Interviewpartner, der all diesen Horror durchleben musste. Dabei ging es nicht nur darum, ihn keinesfalls zu verletzten, sondern auch seine Verwandten und Bekannten, die er verloren hatte. Ein Missverständnis wäre wohl der Genickbruch eines solchen Gesprächs. Da Martin das Gespräch führen würde, bekam er von Anita Winter einen Leitfaden, wie man mit Holocaust-Überlebenden umgeht und spricht.

Bis genügend Vertrauen auf Seite der Stiftung da war, dauerte es eine Weile. Fast zwei Monate stand Martin dafür ständig in Kontakt mit Anita Winter. Schliesslich bekamen wir die Zusage einer Holocaust-Überlebenden. Ihr Name ist Nina Weil. Sie erklärte sich bereit mit uns zu sprechen. Dies war aber ein absoluter Glücksfalls, da Weil im Normalfall keine Interviews mehr gibt. Gerade hatte sie einige Anfragen vom Deutschen Fernsehen und sogar eine Anfrage aus den USA abgelehnt. Wir als Studenten bekamen aber die Zusage.

Nun musste nur noch ein passender Termin gefunden werden. Das war aber gar nicht so einfach. Denn der Termin sozusagen für 6 Parteien passen. Einerseits waren da Nina Weil und Anita Winter, andererseits wir 3 (alle haben ein anderes Major), sowie die Technikausleihe. Dazu kamen noch die jüdischen und christlichen Feiertage die es zu beachten gab. Nach einiger Zeit konnten wir uns jedoch glücklicherweise auf einen Termin einigen. Martin machte den Termin mit Nina Weil persönlich am Telefon aus und hatte so Gelegenheit ein erstes Mal mit ihr zu sprechen.

Das Interview sollte im geschützten Rahmen im Büro der Gamaraal Stiftung stattfinden. Von allen Arbeitsschritten des Projekts, war die Organisation am zeitintensivsten. Von der ersten Anfrage bis zur Festlegung des Drehtags vergingen etwa 3 Monate. Dies zeigt die Komplexität und Schwere der Thematik, die auch noch 70 Jahre später besteht.

 

Drehtag

Am Drehtag trafen wir uns etwa eine Stunden früher im Büro der Stiftung, um genug Zeit für den Aufbau des Sets zu haben. Anita Winter hatte uns bereits vorab ein Foto des Raums geschickt, in dem wir Filmen durften. Darauf zu sehen war auch ein deutsches Filmteam. Für uns war es naheliegend, dass wir eine ähnliche Kameraposition wählen würden. Als wir vor Ort eintrafen, war der Raum jedoch mit einem riesigen Tisch gefüllt. Es galt zuerst Platz zu schaffen.

Während wir noch am Aufstellen waren, kam bereits Nina Weil an. Sie war noch vor Anita Winter da, die noch einen Termin hatte. Weil kam extra früher, da sie aufgrund der schlechten Wetterlage Angst hatte, zu spät zu kommen.  Um die Rentnerin nicht einfach im Regen stehen zu lassen, kümmerte sich Martin um sie. Obschon uns die frühe Ankunft von Nina Weil im ersten Moment etwas aus der Bahn warf, waren wir im nachhinein froh, dass Martin bereits vor dem Interview mit ihr sprechen konnte. Denn durch das Gespräch brach Martin das Eis zwischen ihnen. Zudem konnte er bereits ein erstes Missverständnis aus dem weg räumen. Denn Nina Weil dachte zuerst, es handle sich bei dem Termin um einen Vortrag, den sie halten sollte. Von Filmaufnahmen wusste sie nichts. So stand es einen kurzen Moment lang auf der Kippe, ob wir tatsächlich ein Interview filmen dürfen oder nicht.

Für Martin war es ein sehr spezieller Moment, zum ersten Mal in seinem Leben mit einer Holocaust-Überlebenden sprechen zu können. Da er sich stark für Geschichte interessiert, hatte er viele Bücher über den 2. Weltkrieg gelesen und Dokumentationen gesehen. Nun auf jemanden zu treffen, der das alles erleben musste, war aussergewöhnlich.

Während dem Martin sich mit mit Nina Weil unterhielt, stellten Sandro und Anja das Set auf. Sandro, der weitaus mehr Erfahrung dabei hatte, war die führende Kraft, während Anja versuchte ihm so gut wie möglich zu assistieren. Beim Aufstellen gab es keine grösseren Schwierigkeiten. Da wir wussten, wie wichtig es war, das alles perfekt bereit ist, waren wir auf alles vorbereitet. Sandro hatte zwei seiner eigenen Kameras dabei. Im Notfall hätten wir also noch immer eine Kamera gehabt. Auch verschiedene Akkus und weitere Speicherkarten lagen bereit.

Unsere Vorsicht zeichnete sich jedoch beim Licht aus. Denn eines der Lichter aus der Ausleihe verabschiedete sich beim Aufstellen immer wieder. Um es erneut einzuschalten, mussten wir auf den Tisch klettern, auf den wir das Lichtstativ gestellt hatten und es wieder einstellen. Für das Interview war dies jedoch undenkbar. So hatten wir glücklicherweise weitere Panels dabei und konnten das defekte Licht ersetzten.

Um möglichst schnell mit dem Interview zu beginnen, wenn Nina Weil im Raum ist, versuchten Sandro und Anja auch bereits die Kameras und Lichter perfekt auf sie auszurichten. Anja setzte sich als Lichtdouble dabei so in den Stuhl, auf dem später Weil sitzen sollte, damit sie ungefähr die gleiche Grösse wie die Rentnerin hatte. Dies war besonders wichtig, da Sandro die zweite Kamera auf das das Gesicht von Nina Weil fokussieren wollte. Die Kamera musste deshalb nah bei ihr stehen, durfte jedoch nicht im Bild der anderen Aufnahme zu sehen sein. Nachdem diese Einstellungen gemacht wurden und noch ein paar Bücher aus dem Regal im Hintergrund geräumt wurden, konnte das Interview starten.

Schnell bemerkten wir, dass Nina Weil sehr unkompliziert ist und bereits Erfahrungen mit Interviews hatte. Sie musste nicht gross instruiert werden und sobald die Kameras liefen, erzähle sie von sich aus ihre Geschichte. Sogar wenn nach 30 Minuten die Aufnahmen kurz pausiert werden mussten, begann sie danach einfach wieder etwas weiter vorne als beim Schnitt. So mussten wir uns keine Sorge darüber machen, dass eine Aussage geschnitten wurde, die wir danach nicht mehr verwenden konnten. Dass sie eine Mappe in den Händen hält ist für das Bild vielleicht nicht ganz optimal. Darauf hatte sie aber die Jahreszahlen notiert, falls diese ihr nicht gleich in den Sinn kommen würden.

Die Aufteilung, dass Martin das Gespräch mit ihr führte, Sandro eine der Kameras beaufsichtigte und Anja den Ton sowie die zweite Kamera kontrollierte, funktionierte gut. Nur einmal passierte uns ein kleines Malheur: Nach der zweiten Pause war das Rode Mikrofon auf der Kamera von Sandro für zirka zwei Minuten nicht eingeschaltet. Gleichzeitig war die zweite Kamera, die Anja beaufsichtigte, nicht richtig eingeschaltet und nahm 30 Sekunden lang nicht auf. Da der Ton jedoch separat mit dem Lavalier aufgenommen wurde und die andere Kamera aufnahm, hoffen wir darauf, diesen Fehler im Schnitt ausbügeln zu können.

 

Postproduction

Da Nina Weil ihre Geschichte praktisch aus einem Guss erzählte, konnten wir einiges an Arbeit im Schnitt sparen. Trotzdem ist der Arbeitsaufwand nicht zu unterschätzen, da die Laufzeit des fertigen Films etwa eine Stunde beträgt. Es musste also ständig zwischen den beiden Kameraperspektiven, den Close Ups der Hände und den historischen Bildern gewechselt werden. Diese Bilder lizenzfrei zu finden stellte sich aber als  sehr schwer raus und verschlang einiges an Zeit. Dann folgte der Feinschnitt. Zudem produzierte Martin für den Anfang und den Schluss des Films eine kurze Musiksequenz. Am Ende hatten wir einen knapp 1-stündigen Film, mit nur einer Interviewpartnerin. Dies mag im ersten Moment zu lang erscheinen, wenn man aber sich die Geschichte von Nina Weil anhört, weiss man, dass man so eine Geschichte auf keinen Fall kürzer halten soll als sie ist.  Zumal Weil noch Stoff für mehrere Stunden Filmaufnahmen gehabt hätte. Nur ganz wenige Passagen mussten wir rausschneiden, da sie sich zu weit vom Hauptstrang der Geschichte bewegten.

Freigabe

Den fertigen Film schicken wir Anita Winter von der Stiftung Gamaraal zur Freigabe. Dies diente dazu, dass in den Filmaufnahmen nichts vorkommt, was Nina Weil schaden könnte. Die Freigabe der Stiftung erhielten wir etwa 3 Wochen später. Die Stiftung war mit dem Ergebnis sehr zufrieden, jedoch sollte noch im Beitragstext ebenfalls erwähnt werden, dass der Film im Auftrag der Stitung Gamaraal enstanden war. Dies hat den Grund, dass falls es rechtliche Probleme gibt (z.B. die unsachgemässe Verwendung des Filmmaterials durch bspw. rechtsradikale Gruppen), kann die Stifung selbst rechtlich dagegen vorgehen. Danach bedurfte es noch der Freigabe von Nina Weil, die über die Stiftung Gamaraal abgewickelt wurde. Zusätzlich telefonierten wir aber mit Frau Weil aber auch noch persönlich.Alles in allem dauerte einige Wochen. In Anbetrach der heiklen Thematik war dies aber berechtigt.

 

Kritik

Da ein solches Interview für uns alle Neuland war, sind Fehler eigentlich vorprogrammiert. Beispielsweise die bereits oben genannten Fehler beim Dreh. Im Nachhinein wäre es auch wünschenswert gewesen, wenn wir anstatt nur Bilder auch noch historische Videos im Film gehabt hätten. Jedoch hätte dies noch mehr Zeit in Anspruch genommen, da wir uns an ein staatliches Archiv hätten wenden müssen. Man kann immer etwas anders oder besser machen. Aber wir denken auch, dass wir es, den Möglichkeiten entsprechend, bestmöglich und mit grösstem Respekt umgesetzt haben. Wir haben sehr viel Zeit und Herzblut in dieses Projekt gesteckt und sind derzeit auch dabei eine Zusammenarbeit zwischen dem Studiengang MMP und der Stiftung Gamaraal auf die Beine zu stellen.

 

Fazit

Für uns alle war dieses Projekt sehr eindrücklich. Das bemerkten wir nicht nur beim Dreh selber, sondern vor allem danach. Alle drei von uns gingen nach dem Dreh nach Hause, froh, dass alles geklappt hatte. Erst am Abend des Drehtages, als das Interview bereits einige Stunden zurücklag, realisierten wir wirklich, was wir gehört hatten. Unabhängig voneinander fühlten wir uns bedrückt und nachdenklich. Auch wenn wir mit der Geschichte des 2. Weltkriegs vertraut waren, waren die Gräueltaten dieser Zeit für uns noch nie so real, wie an diesem Abend.

Obschon die Organisation sehr langwierig war, hat es sich deshalb für uns gelohnt. Es war eine einmalige Erfahrung die wir nicht missen wollen und wir freuen uns, dass wir in unserem letzten Semester, einen Beitrag auf Digezz veröffentlichen können, der eine echte Bedeutung hat. Das Video zeigt einen Teil der Geschichte der nicht vergessen werden darf. Und genau deshalb darf es nicht kürzer daher kommen. Auch wenn eine Kurzfassung vielleicht massentauglicher wäre, so würde sie nicht den gewünschten Zweck erfüllen. Frau Nina Weil gibt zudem keine filmischen Interviews mehr, bei uns hat sie eine Ausnahme gemacht. Mit diesem Video haben wir einen Beitrag gegen das Vergessen des Holocaust geleistet.

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