Wie es zustande kam? Das fragen wir uns heute noch manchmal, wie gerade jetzt, bei einem guten Glas Rotwein auf der Veranda des Weingutes eines Freundes im Piemont. Egal wie die Antwort ausfällt, ein Grinsen können wir uns nie verkneifen. Viel Zeit ist vergangen seit dem ersten geschriebenen Wort. Die manchmal willkürlichen, aber immer amüsanten Entstehungsmythen rund um unsere Textart-Plattform sehrguet.ch amüsieren uns nach wie vor. Wir dementieren oder bestätigen diese auf keine Art und Weise. Stattdessen fügen wir dem ganzen eine weitere Variante hinzu – unsere.
Es waren einmal zwei kleine, unschuldige Mädchen, die nichts mehr liebten, als die Welt mit Pinsel und Papier festzuhalten. Ihre Zeichnungen zeigten die Welt als Idyll. Unheil und Sorgen waren ganz aus der Schöpfung gebannt, die sie zu Papier brachten. Beide hatten sie ihren eigenen Stil, der ihnen von ihren Müttern weitergegeben wurde und ihren Müttern von ihren Grossmüttern. Während die Familie Yazumins den Stil des vornehmen Pinsels vertrat, liebte die wilde Seera alle Farben der Welt und begegnete auch dem Unbekannten mit offenem Auge und Herzen. Trotz der Gegensätze waren der rebellische Rotschopf und die elegante Frau von Welt beste Freundinnen. Viele Tage duellierten sie sich freundschaftlich und überboten sich gegenseitig mit Werken von nahezu unglaublicher Schönheit und Präzision.
Mit ihrer Kunst vermochten sie alle in ihren Bann zu ziehen, vom ärmlichen Bauer bis zum tapferen Ritter. An ihren Gemälden sollten auch zwei nichtsnutzige Raufbolde Gefallen finden, die tagein tagaus von Taverne zu Taverne zogen und allen Töchtern im Dorfe schöne Augen machten. Doch es dauerte nicht lange, und die beiden verfielen einer gewissen Melancholie, der sie mit sinnlosen Raufereien Ausdruck gaben. An einem dieser Tage wollte es das Schicksal so, dass der Wind eine Zeichnung zwischen die Faust des einen und das Gesicht des andern trug. Wie zu erwarten bremste sie den Aufprall nicht ab und fiel blutverschmiert zu Boden. Als die beiden Rabauken die Schönheit der Zeichnung erkannten, liessen sie vom Kampf ab. Sie staunten so sehr, dass sie gleich alle Töchter im Dorfe vergassen. Und nicht nur das, auch die Pöbeleien verloren ihre Dringlichkeit. Viel wichtiger schien ihnen, den Urheber dieser Zeichnung ausfindig zu machen. So begaben sich die zwei Jünglinge auf eine Reise durch die dunkelsten Schluchten, windigsten Ebenen und verschneitesten Gipfel des Landes. Dann endlich, nach beschwerlicher und langer Suche und dem Aufgeben nahe, stiessen sie eines Tages unverhofft auf eine einfache, bescheidene Hütte an einem Waldrand.
Friedlich zog Yazumin an ihrer Krautpfeife, während sie die Ankunft der beiden Strolche bereits mit Pinselstrichen festhielt. Alleine die Gegenwart von Yazumin und der Duft ihres Krautes raubte den beiden ihre Sinne. Spätestens mit der Erscheinung von Seera war es um das letzte Fünkchen Verstand der beiden geschehen. Auch die zwei Meisterinnen der Malerei waren, aus bis heute unerklärlichen Gründen, angetan von den beiden Lausbuben. Die vier verstanden sich auf Anhieb und es sollte nicht lange dauern, da teilten die beiden Buben die Faszination des gemalten Bildes mit den Mädchen. Sie zeichneten wie wild drauf los und konnten nach einer gewissen Übung auch das eine oder andere Strichmännchen vollenden. Ihre Werke jedoch blieben stets hinter jenen der beiden Mädchen zurück. So griffen sie bald nicht nur zum Pinsel, sondern auch zur Feder. Seera fand Gefallen an den poetischen Gehversuchen, doch Yazumin war eine Freundin der Tat, nicht des Wortes, und bald wurde sie der Gesellschaft der beiden Jünglinge überdrüssig. Sie wusste zwar, dass die beiden sie sehr mochten, doch konnte sie ihre Freunschaft nicht erwidern, zu wenig bot die Malkunst der beiden, zu sehr huldigten sie dem geschriebenen Wort.
Dabei war Yazumin nicht nur im ganzen Lande für ihre Pinselschwünge bekannt, auch ihr Umgang mit dem Wallholz sorgte für Staunen weit und breit. So war es nicht weiter verwunderlich, dass die beiden Lümmel ihrer freundlichen Einladung nachkamen, am nächsten Tag von ihren Güetzi zu kosten. Doch Yazumins Absichten sollten dunkler sein als ihr langes Haar.
Bis zur späten Stunde stand sie in der Hüttenküche und bereitete den Jünglingen ihr letztes Mal zu. Voller Hass versetzte sie ihr knuspriges Gebäck mit tödlichem Gift. Das anmutige Mädchen hatte sich in ihrer Verachtung auf die beiden Möchtegernpoeten heimlich in eine boshafte Hexe verwandelt. In ihrem Wahn näherte sie sich dem Feuer, auf dem sie die köstlichen Güetzi backte, um mitzuerleben, wie ihr teuflischer Plan aufging. Immer näher rückte sie an die Flammen und heimtückische Freude überzog ihr erhitztes Gesicht. Doch plötzlich, während Yazumin noch voll dunkler Erregung auf die Güetzi starrte, fiel ein Feuerfunken auf eine ihrer Haarsträhnen. Ohne von ihr bemerkt zu werden, breitete er sich rasch aus und bald stand bald ihr halbes Haar in Flammen. Vor Schmerzen schreiend rannte sie in der Hüttenküche herum und stürzte sich im Todestanz von Wand zu Wand. Seera und die beiden Jünglinge wurden darob jäh aus ihrem Schlaf gerissen und als sie sich zu dritt zur Hüttenküche begaben, fanden sie nur die verbrannten Überreste Yazumins vor. In grosser Trauer begruben sie ihre geliebte Freundin hinter der Hütte im Wald. In ihr Grab legten sie ihren Pinsel und die Güetzi, die sie ihnen in ihrer Liebe hatte zubereiten wollen. Ihr Tod vereinte Seera und die beiden Jünglinge so sehr, dass sie sich dazu entschlossen, in Yazumins Andenken gemeinsame Werke zu veröffentlichen – Seera zeichnete fortan zu den Worten der Schreiberlinge. Nie erfuhren sie von den bösen Absichten ihrer damaligen Wegbegleiterin. In Gedenken an Yazumins Pinsel-Künste veröffentlichten sie ihre Texte unter dem Begriff, der ihre geschätzte Freundin am besten in Worte gefasst hatte: sehr guet.
Über die Plattform:
Auf der Text-Art-Plattform sehrguet.ch veröffentlichen Sven Schnyder und Tobias Imbach regelmässig Gedanken, Ideen und Fantasien in verschiedenen Textgattungen (von der Glosse über die Kurzgeschichte bis zum Fortsetzungsroman). Die Texte entstehen entweder in individueller Arbeit oder sind Resultat direkter Kollaborationen. Diese Zusammenarbeiten erfolgen je nach dem zeitgleich, zeitlich versetzt oder auf Kapitel/Abschnitte aufgeteilt. Zum Zeitpunkt des Webseiten-Launches stehen folgende Texte zur Lektüre bereit:
Windstille (Kapitel I) – Fortsetzungsroman, Tobias Imbach
Sollievo – Kurzgeschichte, Sven Schnyder
Bawler (Kapitel I, Teil der Orphans-Trilogie) – Fortsetzungsroman, Sven Schnyder und Tobias Imbach
Chursee – Kolumne, Sven Schnyder
Sarah Vettori versieht jeden der Texte mit Illustrationen, die in verschiedenen, zu den Texten passenden Stilen gehalten sind – so auch bei obigem Text. Dieser erklärt in Form einer Binnenerzählung, einer Geschichte in einer Geschichte, wie die Idee zu dieser Denk- und Schreibfabrik geboren wurde.