«Wegschauen ist keine Lösung»

Meistens geschieht es hinter verschlossenen Türen. Darüber gesprochen wird selten: Häusliche Gewalt. Im Jahr 2016 gab es in der Schweiz 10 040 geschädigte Personen infolge häuslicher Gewalt. 75% davon waren Frauen. (Quelle: Bundesamt für Statistik)

Wohin, wenn die Gefahr zuhause zunehmend bedrohlich wird? Anlaufstelle für weibliche Opfer von häuslicher Gewalt sind die 17 Frauenhäuser in der Schweiz. Eines davon ist in Graubünden. Es wurde 1989 gegründet und bietet Schutz, Hilfe und Beratung bei häuslicher Gewalt.

Das Frauenhausteam besteht aus zehn Mitarbeiterinnen. Bea Wittig ist eine davon. Sie ist seit vier Jahren als Sozialarbeiterin im Frauenhaus tätig.

Digezz: Bea Wittig, wer sucht bei Ihnen Hilfe?
Bea Wittig: Frauen und ihre Kinder jeglichen Alters, jeglicher Nationalitäten. Auch junge Frauen, die von familiärer Gewalt betroffen sind, zum Beispiel Zwangsheirat. Letztes Jahr suchten 32 Frauen mit 29 Kindern bei uns Hilfe. Gut die Hälfte der Betroffenen waren Schweizerinnen. Das Durchschnittsalter lag zwischen 30 und 40 Jahren.

Gibt es eine Erklärung dafür, weshalb sich viele junge Frauen ans Frauenhaus wenden?
Statistiken zeigen, dass Frauen mit kleinen Kindern ein höheres Risiko haben, von häuslicher Gewalt betroffen zu sein. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, weshalb das so ist. Ein Grund könnte die Umstellung von der Paarbeziehung auf die Familie sein. Für viele Paare ist dies nicht einfach. Es kommen Themen auf wie Überforderung, materielle und finanzielle Schwierigkeiten. Die neue familiäre Situation kann dazu führen, dass der Stress zunimmt und Gewalt daraus resultiert.

Welches sind die häufigsten Gründe für eine Kontaktaufnahme mit dem Frauenhaus?
Drohungen, psychische Gewalt, Kindesmisshandlung, körperliche Gewalt, ökonomische Gewalt (Ausbeutung), soziale Gewalt (Isolierung), sexuelle Gewalt; in dieser Reihenfolge. Sehr viele Frauen kommen aufgrund von Drohungen zu uns. Beispielsweise, wenn der Mann der Frau droht, ihr die Kinder wegzunehmen. Oder wenn er ihr droht, dass er ihr das Leben zerstören oder sich umbringen wird, falls sie sich von ihm trennt.

Welches sind die ersten Schritte, die Sie unternehmen, wenn sich eine Frau telefonisch ans Frauenhaus wendet?
Als erstes fragen wir nach der Situation und wie akut sie ist. Ist gerade eine Eskalation erfolgt, braucht es möglicherweise eine polizeiliche Intervention. Nachher fragen wir nach dem Wohnort, weil der Aufenthalt über die kantonale Opferhilfe geregelt ist. Wenn wir keinen freien Platz haben, vermitteln wir die Frau in ein ausserkantonales Frauenhaus. Wir klären die Betroffene darüber auf, wie das Frauenhaus und der Aufenthalt funktionieren, was wir anbieten können und was nicht. Ausserdem erkundigen wir uns nach den Kindern, deren Alter und besprechen daraufhin, wie der Eintritt erfolgt und was die Frau mitnehmen sollte (Beispielsweise Kleidung, Pässe, Medikamente, Lieblingsspielzeug der Kinder, etc.). Manchmal sind die Eintritte jedoch ganz ungeplant. Zum Beispiel über das Spital oder eine andere Stelle. Zum Schluss vereinbaren wir mit der Frau einen Treffpunkt, wo wir sie abholen und in der Regel zu zweit ins Frauenhaus begleiten.

Der Aufenthaltsort des Frauenhauses ist geheim. Welche vorbeugenden Sicherheitsmassnahmen treffen Sie, damit dies so bleibt?
Die Frau muss die Handy-Ortung deaktivieren, ihr Handy ausschalten und die SIM-Karte entfernen. Ausserdem achten wir darauf, dass ihr niemand zum Treffpunkt folgt, von wo aus wir mit ihr ins Frauenhaus gehen.

Wie muss man sich den Alltag einer Frau, nach der Aufnahme im Frauenhaus, vorstellen?
Berufstätige Frauen nehmen, wenn es möglich ist, eine Auszeit. Es ist ja so, dass der Täter meistens weiss, wo seine Frau arbeitet, und ihr am Arbeitsplatz auflauern könnte. Wir hatten aber auch schon Fälle, da gingen die Frauen weiterhin arbeiten. In solchen Situationen müssen wir unsere Beratung und Hilfestellung auf die Abendstunden oder aufs Wochenende verlegen. Es gibt sehr viel zu tun, wenn eine Frau bei uns Hilfe sucht und sich beispielsweise von ihrem Mann trennen möchte. Im Frauenhaus selber leben die betroffenen Frauen und ihre Kinder untereinander wie in einer Wohngemeinschaft.

Wie lange dauert der Aufenthalt einer Frau im Frauenhaus im Schnitt?
Pro Tag sind ca. drei Frauen bei uns einquartiert. Eine Betroffene bleibt im Schnitt drei Wochen im Frauenhaus. Das ist sehr kurz. Die Frau muss sich während dieser Zeit zuerst wieder orientieren. Sie muss spüren: Was will ich? Anschliessend müssen relativ schnell rechtliche und praktische Entscheidungen getroffen werden, wie es weitergehen soll.

Was passiert nach dem Aufenthalt im Frauenhaus?
Jede Frau hat ihre eigenen Ziele und Ressourcen. Nicht alle, aber sehr viele finden die Lösung, die sie anstreben. Sei es eine eigene Wohnung, sei es die Rückkehr in die frühere Heimat oder die Rückkehr in die Familienwohnung, aber allein mit den Kindern und ohne den Ehemann. Wenn dies nicht möglich ist, kommt vielleicht eine akzeptable Zwischenlösung in Betracht. Beispielsweise die Unterbringung bei Verwandten oder einer anderen Institution. Wir sind froh, wenn wir die Frau solange begleiten können, bis sie ihr Leben wieder neu starten kann.

Gibt es Frauen, die regelmässig im Frauenhaus Graubünden Hilfe suchen?
Von den Frauen, die sich im Jahr 2017 an uns gewandt haben, waren drei oder vier zum zweiten Mal im Frauenhaus. Von regelmässigen Besucherinnen kann man also nicht sprechen.

Viele Frauen suchen die Schuld bei sich, auch wenn sie ganz klar in der Opferrolle sind. Erleben Sie dies auch so?

Schuldgefühle sind ein sehr grosses Thema. Sie sind normal, aber überhaupt nicht hilfreich. Wir sagen den Kindern und den Frauen: Wer Gewalt ausübt, ist verantwortlich. Das heisst aber nicht, dass ich nicht selber meine Rolle reflektieren und Änderungen anstreben muss. Wir versuchen mit den Stärken der Frauen zu arbeiten.

Haben Sie auch schon gefährliche Momente im Frauenhaus erlebt?
Es gibt telefonische Bedrohungen und Täter, die über verschiedene Wege versuchen, die Frau zu kontaktieren. Deshalb machen wir gleich bei der Kontaktaufnahme eine systematische Gefährdungseinschätzung mit der Frau. In Hochrisikofällen nehmen wir früh Kontakt mit der Polizei auf. So zum Beispiel, wenn der Täter Waffen besitzt, bereits straffällig geworden ist oder wenn er sich im kriminellen Umfeld bewegt, holen wir rechtzeitig die Polizei hinzu und sichern das Haus. Zum Glück gab es noch keine Überfälle auf das Frauenhaus. Im Notfall haben wir einen direkten Knopf zur Polizei.


Wie gehen Sie persönlich damit um, Gewaltopfern zu helfen?

Risikofälle und hochtraumatisierte Kinder sind zwei Aspekte, die mich persönlich fordern und belasten. Da brauche ich jeweils etwas mehr Zeit, um wieder unbelastet arbeiten gehen zu können. Im Frauenhaus schauen wir uns die Fälle gemeinsam in Teambesprechungen und der Supervision an. Dies hilft enorm.
Wir arbeiten eng mit Menschen zusammen. Wir können und wollen uns auch nicht ganz abschotten, da kommt es vor, dass Ohnmachtsgefühle überschwappen. Hier ist ganz wichtig, dass jede Mitarbeiterin dies für sich reflektiert und für einen guten Ausgleich in der Freizeit sorgt.

Wie können Freunde von Opfern von häuslicher Gewalt helfen?
Wir erleben immer wieder, dass Bekannte und Freundinnen anrufen, die sich Sorgen machen um die Kollegin. Dann ermutigen wir sie, gemeinsam zur Opferhilfe oder ambulanten Beratung zu kommen, um die Situation zu besprechen. Wegschauen ist keine Lösung. Konfrontieren kann aber dazu führen, dass sich die Betroffene abschirmt und auch noch diesen Kontakt verliert, weil sie zu viel Angst hat, etwas zu verändern. Das führt in immer grössere soziale Isolation und schwächt die Lage des Opfers zusätzlich. Also gilt für die Begleitung: Immer wieder anklopfen und Wege aufzeigen, ermutigen, Angebote machen. Aber keinen Druck ausüben, denn jeder braucht seine Zeit.

Weitere Informationen zum Frauenhaus Graubünden finden Sie unter www.frauenhaus-graubuenden.ch

(twb)

Kritik
von Sarah Huwiler

Idee
Letzten Herbst machte ich mir Gedanken über mögliche Digezz-Projekte im Frühlingssemester, die ich bereits organisieren konnte. Ich überlegte mir Themen, die allgegenwärtig sind, jedoch nur selten zur Sprache kommen. Entweder weil sie tabu sind oder nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie eigentlich verdient hätten: Häusliche Gewalt. Beim Recherchieren stiess ich auf das Frauenhaus Graubünden. Wäre es wohl möglich, mit dem Frauenhaus zusammenzuarbeiten und ein Interview zu realisieren? Und gibt es sogar eine Möglichkeit, zusätzlich mit einem Opfer häuslicher Gewalt zu sprechen?

Umsetzung
Bei meiner Anfrage beim Frauenhaus Graubünden stiess ich auf grosses Interesse. Ich schlug ihnen meine Idee, ein Portrait über das Frauenhaus zu machen, vor. Zuerst sollte das Portrait vom Frauenhaus durchgeführt werden. Der nächste Schritt wäre ein mögliches Interview mit einer Frau, die sich im Frauenhaus aufhält und mir ein paar Fragen beantworten würde. Dass die Chancen dafür nicht sehr gross sind, war mir bewusst. Schliesslich müssen viele Faktoren miteinbezogen und berücksichtig werden, um ein solches Interview durchführen zu können.
Nichtsdestotrotz bezog ich diese Möglichkeit bei der Planung der journalistischen Umsetzung mit ein. Ich konnte mir vorstellen, ein Videoportrait, ein Radiointerview oder ein schriftliches Interview zu realisieren. Das filmische Portrait war aus Datenschutzgründen nicht möglich. Das Radio-Interview hätte durchgeführt werden können. Nur gab es einen heiklen Punkt. Falls die Interview-Möglichkeit mit einer Frau, die Hilfe im Frauenhaus suchte, zustande kommen würde, wäre das Risiko, dass jemand ihre Stimme erkennen könnte, eventuell sehr gross. Mir war nicht wohl dabei. Ausserdem wollte ich die Stimme am Radio nicht unkenntlich machen, da die Authentizität dabei verloren gehen würde. Also entschied ich mich zusammen mit dem Frauenhaus, ein schriftliches Interview umzusetzen.

Damit sich die Sozialarbeiterin Bea Wittig auf das Interview vorbereiten konnte, schickte ich ihr im Voraus ein paar Fragen.
Während der Semesterprüfungen im Januar trafen wir uns in der Beratungsstelle für häusliche Gewalt in Chur. Das Interview dauerte knapp 45 Minuten. Ich nahm es mit dem Handy auf, um es anschliessend zu transkribieren. Während des Gesprächs entstanden zusätzliche Fragen.
Online suchte ich weitere Facts zum Thema «häusliche Gewalt», um den Einstiegstext zu schreiben.
Damit das schriftliche Interview nicht nur aus Text bestand, kreierte ich passende Bilder. Dafür suchte ich Fotos zum Thema «häusliche Gewalt» und bearbeitete sie anschliessend mit Photoshop. Ich zeichnete sie nach und suchte Farben heraus, die ihre Ausdruckskraft hervorheben.

Fazit
Im Moment bleibt es beim Portrait über das Frauenhaus Graubünden. Bis zum jetzigen Zeitpunkt hat sich die Möglichkeit, mit einer betroffenen Frau zu sprechen, nicht ergeben. Ich denke aber, schon alleine das Frauenhaus vorzustellen, trägt zur Sensibilisierung des Themas bei. Und das war schliesslich eines meiner Ziele.
Mit der Umsetzung bin ich zufrieden und hoffe, dass mein Interview der wichtigen Aufgabe, die das Frauenhaus täglich erfüllt, gerecht wird.

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