Zivilcourage: Das Experiment

Was passiert, wenn sich zwei Männer mitten auf der Strasse verprügeln? Oder wenn eine Frau inmitten von Passanten von einem Mann bedrängt wird? Ein Experiment zum Thema Zivilcourage in der Innenstadt von Winterthur.

Ist ein gebrochener Kiefer ein angemessener Preis für den Versuch, einen handfesten Streit zu schlichten? Das folgende Experiment von Roy Stahl, Sebastian Klinger und Tobias Grimm in Zusammenarbeit mit dem Magazin Beobachter hat sich im Web wie ein Lauffeuer verbreitet und genau zu dieser Frage für grossen Diskussionsstoff gesorgt. Ein vertiefter Artikel zum Thema Zivilcourage und der Kampagne #schauthin wurde im Zusammenhang mit diesem Filmdreh in Winterthur von Beobachter in Print und digital veröffentlicht. Hier geht’s direkt zum Artikel von Beobachter.

Mittwoch Mittag, Bewölkt 18°C, Winterthur

In der belebten Einkaufspassage nahe vom Bahnhof Winterthur wimmelt es von Geschäftsmänner, Familien und Touristen. Doch was passiert, wenn plötzlich Zivilcourage gefragt wäre? Die Szenen wurden von den Schauspielern Simone Wildi, Heinz Brunner und Florian Künzli gespielt.

Zivilcourage – Das Experiment

Rentnerin Ruth Suri hat Zivilcourage gezeigt und in die gewalttätige Situation eingegriffen. Weshalb sich Ruth Suri für Zivilcourage einsetzt, erzählt sie im Interview.

Der Winterthurer Fabian Steiner beobachtet die Schlägerei beim Mittagessen aus dem McDonalds gegenüber der Gewaltszene. Auch er zeigt Zivilcourage, lässt seinen BigMac fallen, schreitet zielstrebig auf den Täter zu und schubst ihn vom Opfer weg. Wie sich diese unangenehme Situation für Fabian Steiner anfühlte, erzählt er im Interview.

Selbst als der Schauspieler Florian Künzli hilferufend am Boden liegt, wird ihm nicht geholfen. Was mit Florian Künzli in dieser Situation abging, erzählt er im Interview.

Das Schauspieler-Paar Simone Wildi und Heinz Brunner ziehen ein durchmischtes Fazit von der Bereitschaft der Passanten, sich einzusetzen für Zivilcourage. Von ihren Erfahrungen und Gefühlen aus dem Experiment erzählen sie im nachfolgenden Clip.

Virale Verbreitung

Das Video «Zivilcourage – Das Experiment» hat in den ersten 24 Stunden nach Veröffentlichung über die Facebook-Seite des Beobachter eine Reichweite von 162’048 Personen erreicht. Zudem wurde das Video 79’008 Mal aufgerufen, bekam 629 Likes und wurde 759 Mal geteilt. Am Tag nach der Erstveröffentlichung wurde das Video in einem journalistischen Bericht von Blick.ch mit der Headline: «Schock-Experiment mit Schläger in Winterthur» online gestellt. Dort erreichte der Clip zusätzliche 78’450 Aufrufe.

Bilderserie «Behind the scenes» vom Filmdreh «Zivilcourage – Das Experiment»

Kritik
von Tobias Grimm, Roy Stahl und Sebastian Klinger

Reflexion «Schaut hin»

1. Konzeptgedanke

Thematisch war dieses Experiment eine sehr spannende Herausforderung, dessen Ausgang uns alle interessiert hat. Jeder von uns drei hat bereits solche oder ähnliche Videos gesehen und sich gefragt, wie man in einer solchen Situation wohl selbst reagieren würde. Für uns war es spannend nun selber mit dabei zu sein und die Reaktionen live miterleben zu dürfen.

Die Aufgabe liess uns nachdenken, diskutieren und manchmal auch etwas beschämt lachen. Trotz der Ernsthaftigkeit des Themas und der Seriosität mit der wir es behandeln wollten, hatten wir beim Dreh und auch während der Postproduction viel Spass.

Für uns ist das Ergebnis trotzdem ernüchternd. Wir träumen von einer Welt, in der weniger weggeschaut wird. Wir hoffen alle, nie in solche Situationen zu gelangen. Trotzdem wünschen wir uns den Mut, in solchen Momenten bewusst und richtig einschreiten zu können. Wir finden es schön, Dass der Beobachter ein solches Thema aufgenommen hat und es nicht in einer storytechnischen «Eintagesfliege» mit hohem Click-Wert abhandelt. Denn mit dem neu lancierten Sozialprojekt «schauthin.ch» und dem etablierten «Prix Courage» kann der Beobachter dem Thema Zivilcourage die nötige Tiefe und Relevanz beimessen, welche das Thema an sich verdient.

2. Zusammenarbeit mit Beobachter

Das Porträt aus diesem Digezz Beitrag ist in auftragsbasierter Zusammenarbeit mit dem Magazin Beobachter entstanden. Auf dem Filmset waren die Journalisten Jessica King, Otto Hostettler und Markus Föhn dabei. Verantwortlich waren Projektleiter Gian Signorell und Leiterin Digital, Nathaly Tschanz. Das Video wurde auch in der Print Version des Beobachter beworben (918'000 Leserinnen und Leser gemäss MACH Basic 2013-2).

3. Medienwahl

Die Kampagne www.schauthin.ch sollte mit einem Zivilcourage-Experiment auf den Strassen von Winterthur im gedruckten Magazin Beobachter (Ausgabe vom 15. Mai 2015) zum ersten Mal präsentiert werden. Schnell kam die Idee auf, dieses Experiment nicht nur fotografisch und als Textinterviews festzuhalten, sondern auch ein Video zu drehen. Dieses sollte die Einführung der Kampagne und den Artikel online begleiten. Die multimediale Art (Magazinbericht, Onlineartikel, Fotos, Videos) des Projekts zeigt, dass konvergentes Arbeiten für verschiedene Kanäle mehr denn je von den Verlagshäusern gewünscht und von den Rezipienten gefordert ist.

4. Produktionsweise / Workflow

Wie filmen wir möglichst versteckt und ohne aufzufallen die gespielten Szenen? Dies war nicht nur technisch eine Herausforderung sondern auch eine personelle Frage. Um nicht aufzufallen war es notwendig mit möglichst wenig Personen zu filmen. Wir entschieden uns für ein dreiköpfiges Team. Dabei teilten wird die Arbeit auf zwei betreute «versteckte» Kameras, eine unbetreute Kamera und einen Tontechniker auf.

4.1 Kamerawahl

Da der künstlerische Aspekt nicht zentral war für diesen Film, verzichteten wir auf die Verwendung von DSLR-Kameras. Lichtstärke, eine hohe Tiefenunschärfe sowie cineastische Bildanmutung waren für dieses Projekt weniger wichtig als kompakte Bauweise, grosser Zoombereich und dank kleinen Sensoren immer scharfe Bilder. Auch die optischen Bildstabilisatoren dieser Camcorder halfen uns, das Bild stabil zu halten auch wenn man teils mehr mit Verstecken als mit Ruhighalten beschäftigt war. Schöne Bilder einzufangen und nicht aufzufallen ist generell schwieriger als man denkt. Wir sind mit der Aufteilung und den entstandenen Bilder aber sehr zufrieden. Die Kameras organisierten wir wie folgt:

Kamera 1
– Typ: Canon XF105, bemannt, handgehalten
– Ton: Richtmikrofon Sennheiser ME66
– Standort: auf der Strasse, versteckter, da grosse Kamera
– Aufgaben: versteckte Kamera Nr. 1, Interviewkamera

Kamera 2
– Typ: kompakter Handycamcorder, bemannt, handgehalten
– Ton: integriertes Mikrofon
– Standort: auf der Strasse, filmt Close-Up's
– Aufgaben: anderer Blickwinkel zu Kamera 1 filmen

Kamera 3
– Typ: Handycamcorder auf Stativ, unbemannt
– Ton: integriertes Mikrofon
– Standort: im 2. Stock über der Strasse
– Aufgaben: filmt Totale

4.2 Kameraoperating

Kamera 1 hatte die Aufgabe, beim Einschreiten einer Person, aus der Deckung hervor zu eilen und gemeinsam mit einem Journalisten die intervenierende Person zu interviewen. Viele Menschen waren über die Auflösung der gespielten und mit versteckter Kamera gefilmten Szene verwundert. Niemand ahnte, dass die Szene nur gespielt, geschweige denn dass sie bildlich festgehalten wurde. Zu Beginn wehrten sich jeweils einige gegen die in der Interviewsituation nun offensichtliche Kamera-Aufnahme. Die Verstrickung in einen Dialog mit den Journalisten und einige Komplimente liessen die meisten Personen aber wieder vergessen, dass eine Kamera das Interview filmte. Die meisten gaben ihr Einverständnis für das Interview und erlaubten auch, sie mit Namen zu nennen. Eine gewisse «Frechheit» und Zielstrebigkeit ist also durchaus zielführend. Wer draufhält und sich von anfänglichen Vetos nicht gleich einschüchtern lässt, kriegt auch seine Bilder.

Für Kamera 2 wählten wir im Vergleich zu Kamera 1 eine besonders kompakte Modell. Der Kameramann sollte wann immer möglich näher am Geschehen sein als Kamera 1. Dies auch weil seine Kamera die geringere Zoomreichweite aufwies, als die Canon XF. Der Kameramann musste unentdeckt bleiben und möglichst nicht im Bild der ersten Kamera erscheinen.

Kamera 3 filmte eine Totale aus einer erhöhten Position. Wir durften nach vorausgehender Abklärung (einige Tage im Voraus) aus dem Fenster einer Arztpraxis filmen. Diese Kamera war unbetreut und dient uns hauptsächlich für etablierende Shots. Sie sorgte für Schnittmaterial, falls keine der bemannten Kameras ein brauchbares Bild gehabt hätte.

4.3 Tonaufnahme

Für ein solches Experiment ist der Ton unglaublich wichtig. Die physische Interaktion von Angreifer und Opfer wird durch den Ton erst erfahrbar. Die Emotionalität der Szene wird durch den Originalton verstärkt.

Die Herausforderung war es, die Sprache und die physischen Kontakte der Schauspieler so intensiv wie möglich aufzunehmen ohne sie komplett von der Umwelt abzuschotten. Wir haben uns ganz bewusst für einen Bruch zwischen Sehen und Hören entschieden. Hätten wir den Ton so aufgezeichnet, dass er mit der beobachtenden Position der Kameras übereinstimmt (mittels Richtmikrofonen auf den Kameras), würde einiges der Darstellung und der Intensität des Aufeinanderprallens verloren gehen. Mit Richtmikrofonen auf den Kameras wäre die Distanz zu gross gewesen. Die Tonaufzeichnung hätte auf diese Art zu viele Umgebungsgeräusche eingefangen. Zudem hätte der Ton der Schauspieler gefehlt, sobald der Kameramann vorbeigehende oder beobachtende Passanten statt der Schauspieler gefilmt hätte.

Daher haben wir uns entschieden, alle Schauspieler mit einem Lavaliermikrofon mit Kugelcharakteristik und einem Funksender zu verkabeln. Dabei haben wir die Mikrofone innerhalb der Kleidung versteckt, so dass diese für Passanten nicht direkt ersichtlich waren. Damit bei den teils doch recht physischen Auseinandersetzungen, die Kleidung nicht an den Mikrofonen «kratzte», wurden die Mikrofone rund um die Kapsel mit einem Polster aus Gaffa abgeklebt. Weiterhin haben wir sämtliche Kabel mit speziell hautfreundlichem Klebeband auf die Haut oder die Kleidung der Darsteller geklebt. Die Bodypack-Sender wurden so eingepegelt, dass ein Clipping nicht möglich war. Alle Funkkanäle wurden danach separat aufgezeichnet. Während den gespielten Szenen wurden diese Pegel stets überwacht und laufend angepasst.

4.4 Synchronisierung von Bild und Ton

Drei Kameras und bis zu vier zusätzliche Audiospuren mussten in der Postproduction synchronisiert werden. Dies ohne Klappe oder sonstige Synchronisierungspunkte. Erschwerend kam hinzu, dass nicht alle Kameras immer das gleiche filmten. Die kameraintern aufgezeichneten Audiospuren waren oft komplett anders und beinhalteten nur ganz entfernt den Dialog der Auseinandersetzung. Ohne Bild und wenigen, identischen «Tonschnipseln» eine ganze Kameraspur zu synchronisieren, wurde dementsprechend aufwändig. Hierzu gibt es im semiprofessionellen Kamera- und Audiotechnikmarkt keine einfache Lösung. Auch professionelle Kameras, welche sich über Timecode abgleichen lassen, wären hier kaum eine Alternative gewesen. Denn nur mit erheblichem Aufwand lassen sich Kameras drahtlos mit Timecode synchronisieren. Von Vorteil wäre jedoch gewesen, zu Beginn einer neuen Szene alle Kameras zu versammeln, gemeinsam zu starten, mittels Klappe zu synchronisieren und dann an ihren jeweiligen Standort zurück zu schicken. Da dies aber zu auffällig gewesen wäre, mussten wir auch diese Lösung für unbrauchbar erklären.

4.5 Audio-Mix

Für den finalen Mix haben wir die Lavalier-Mikrofone, welche dank Kugelcharakteristik Schall aus allen Richtungen einfangen, immer dezent integriert. Für die Interviews wurde auf ein hochwertiges Richtmikrofon direkt auf der Kamera zurückgegriffen. Auch dessen Ton wurde im finalen Video stets dezent zugemischt, um der ganzen Szenerie noch etwas Weite und mehr Umgebungsgeräusche hinzuzufügen. Die Aufnahmen der integrierten Kameramikrofone wurden lediglich zum Abgleichen der Audiospuren genutzt.

5. Lessons learned

Die Umsetzung eines Drehs mit «versteckter Kamera» verlangt nach guter Vorbereitung:

Materialauswahl

Ein klares Materialkonzept hilft ungemein den volatilen Charakter eines solchen Drehs zu meistern. Wir mussten unsere Vorurteile über Bord werfen: DSLR's sind toll – aber nicht für jeden Zweck. Die kleinen Camcorder haben für diesen Einsatz den besseren Job gemacht. Wer Run & Gun macht, braucht nicht klassisches Indie-Filmequipment, sondern Geräte, die möglichst viele Funktionen in sich vereinen.

Struktur

Für versteckte Kamera braucht es viele Leute (in Klammer: Anzahl involvierter Leute bei diesem Projekt):

– Journalisten, die Situation auflösen und Interviews führen (4)
– ein mehrköpfiges Kamerateam (3)
– Schauspieler, um Gefahrensituation authentisch zu spielen (3)
– Maske, um die Schauspieler zu schminken (1)
– ein Fotografen-Team (Bilder Printausgabe & Web) (3)
– ein Projektleiter (1)

Es lohnt sich, ein klare Struktur und Hierarchie vor Ort zu haben. Wir erlebten trotz guter Vorbereitung aller Parteien eine ausgeprägte Chaosphase zu Beginn des Drehs. Wohl alleine aufgrund der grossen Anzahl involvierter Personen. Denn 15 Personen auf einem Set, bei welchem eigentlich niemand auffallen darf, ist eine grosse Herausforderung. Trotzdem waren wir froh über die grosse Anzahl von Journalisten. Denn teilweise galt es, mehrere intervenierende Personen gleichzeitig über den gespielten Charakter der Darstellung zu informieren und zu interviewen.

Ausbildung am Puls der Zeit

Auch wenn Hansi Voigt orakelt, dass die Konvergenz von Online- und Print-Medien tot sei, so war dieses Projekt doch ein wunderbares Beispiel dafür, dass Print und Online sich ergänzen können. Wird für jedes Medium so produziert, wie die Zielgruppe das Medium konsumiert, dann sind wir mehr denn je überzeugt, dass konvergentes Produzieren die Zukunft ist. Obwohl wir alle noch jung und unerfahren sind und uns im stetigen Lernprozess befinden, können wir genau mit solchen Produktionen den Wirtschaftspartnern und Auftraggebern zeigen, dass unsere Ausbildung Sinn ergibt und am Puls der Zeit ist.

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