Aufgerüttelt oder abgeschüttelt?

Ein Denkanstoss zu der fiktiven und realen Gewalt am Beispiel des Films Forbidden Voices von Barbara Miller und dem Kameramann und Dozent der HTW Chur Peter Indergand.

Weiss gekleidete Frauen befinden sich auf einem friedlichen Demonstrationszug. Plötzlich, von überall kommen Männer, starke Männer mit Waffen und Knüppeln. Die Frauen werden zu Boden geworfen, geschlagen, beschimpft. Schreckliche Szenen, die sich einem präsentieren. Aber es ist ja nur ein Film, würde man floskelhaft sagen. Diesmal nicht.

In Barbara Millers Film Forbidden Voices geht es um die Realität. Die Szenen sind nicht nachgespielt und mit viel Blut versehen worden. Nein, die gezeigten Szenen sind vom Kameramann Peter Indergand gefilmt worden, vor Ort. Er ist zu den Plätzen des Geschehens gereist und hat sich die Schicksale unter die Linse genommen und ein Film wurde dadurch realisiert. Die schrecklichen Bilder ziehen sich durch den Film hindurch. Man sieht die chinesische Bloggerin Zeng Jinyan, welche unter Hausarrest steht. Oder eine Frau, welche im Iran auf offener Strasse ermordet wird.

Viele Leute sind bei solchen Bildern nicht mehr schockiert, denn die Welt kennt sie schon lange. Doch irgendwie hat sich mein Auge noch immer nicht daran gewöhnt. Mich schockieren solche Szenen jedes Mal von Neuem. Darum gehe ich bewusst fiktiver Gewalt in den Medien aus dem Weg.
Meine Frage ist: können wir klar unterscheiden zwischen Realität und Fiktion? Ich gebe es ehrlich zu, ich kann es nicht. Das ist auch der Grund, warum ich mir bewusst keine Filme ansehe mit sinnloser Gewalt und Kriminalität. Lebe ich in einer naiven Welt oder kann ich mich durch meinen präventiven Gewaltkonsum auf die wichtigen Informationen konzentrieren?
Warum tut man sich fiktive Gewalt, welche in gewissen Filmen die Überhand hat, freiwillig an? Ist es Geschmackssache eines jeden Einzelnen? Sind die Gefühle der Zuschauer gegenüber Gewalt abgestumpft worden durch Gewaltverherrlichung?

Auf mediengewalt.de findet man unzählige Studien zum Thema Gewalt in den Medien, auch im Zusammenhang mit Kindern. Eins haben aber alle Berichte gemeinsam. Die Gewalt in den Medien verändert uns. Gemäss Dr. Phil Hemann Mayns Studie Medien und Gewalt gibt es drei Faktoren, von denen die Auswirkung abhängt. Zum einen ist es die Art und Weise der Gewaltdarstellung und zum anderen ist es die Persönlichkeitsstruktur des Konsumenten. Also spielen sein Alter, Geschlecht, soziale Integration und Intelligenz dabei eine grosse Rolle. Nicht zu vergessen ist das Umfeld, in welchem man sich die Gewaltszenen ansieht.

Wer im Web nach den Begriffen „Gewalt, Medien, Desensibilisierung“ sucht, stösst auf diverse Studien, welche belegen, dass uns die Gewalt in den Medien abstumpft, oder wie der Fachbegriff lautet: desensibilisiert. Die Gewaltdarstellungen schränken unsere menschlichen Fähigkeiten zu Mitgefühl und Empathie extrem ein.
Die Frage, welche nun für mich im Raum steht ist: Wie haben meine Mitschüler den Film Forbidden Voices wahrgenommen? War es für mich eine viel emotionalere Erfahrung die Bilder von leidenden und sterbenden Menschen zusehen als für manch anderen? Gemäss wissenschaftlichen Erkenntnissen ist dies genau der Fall. Meine Sinne sind Gewalt nicht gewohnt und reagieren aus diesem Grund stärker auf das Wahrgenommene.

Wie sieht es mit der Botschaft des Filmes aus? Der Film portraitiert drei Bloggerinnen und wie sie mit ihren Einträgen Millionen von Menschen erreichen. Sie machen auf Ungerechtigkeit, welche unter den Diktaturen zustande gekommen sind, aufmerksam und werden von der eigenen Regierung verfolgt. Für das setzen sie ihr Leben und ihre Freiheit aufs Spiel. Ist es in unserer Gesellschaft noch möglich mit einem Film wachzurütteln, oder geht der Streifen harmlos an uns vorbei? Kann es sein, dass wir von Schicksalsschlägen nicht mehr beeindruckt werden aufgrund der zunehmenden Gewalt in den Medien? Meiner Ansicht nach hat es nichts damit zu tun, wie abgestumpft jemand ist, sondern wie viele Gedanken man sich selbst zu diesem Film macht. Forbbiden Voices  wäre auch ohne die Gewaltszenen aussagekräftig genug, um wachzurütteln. Der Film stimmt einen nachdenklich und zeigt einem in ernüchternder Weise, wie wenig Macht ein Einzelner hat.

But sometimes one voice can reach the world. (Forbidden Voices, 2012)