Mikrokosmos Fahrstuhl

Das Auf und Ab eines Mikrokosmos

Der Fahrstuhl. Er gilt als sicherstes Verkehrsmittel der Welt und statistisch gesehen, verwendet jeder Mensch dieser Erde innerhalb von 72 Stunden einen solchen. Ein Ort der Begegnung, der bei manchen Menschen Platzangst auslöst, sie in Verlegenheit oder eine Verschnaufpause bringt. Für Hollywood-Regisseure ein beliebter Schauplatz, um Stresssituationen darzustellen. Trotz der Allgegenwärtigkeit dieses Fortbewegungsmittels überkommt die meisten Passagiere mit jeder Fahrt ein mulmiges Gefühl. Ein Blick auf einen Mikrokosmos inmitten eines Kaufhauses.

Es ist Donnerstag Morgen, 10 Uhr, die Sonne blitzt über die Dächer und das Treiben auf der Strasse wird langsam hektischer. Die Stadt Chur erwacht zum Leben. Wir betreten das Warenhaus Manor an der Bahnhofstrasse 32. Im Erdgeschoss werden noch die letzten Schmuckstücke in den Präsentationsvitrinen zurechtgerückt. Pakete mit Kalendern fürs Jahr 2012 werden ausgepackt und zum Verkauf aufgehängt. Wir gehören zu den ersten Kunden im Haus – dementsprechend ist die Hektik in diesem Konsumparadies noch nicht gross zu spüren.

Wir folgen dem weissen Liftsymbol auf schwarzem Grund und gelangen schliesslich vor eine Chromstahltüre. Mit einem sachten Drücken des grossen runden Bedienknopfes setzen wir die Maschinerie in Bewegung. Nach einigen Sekunden leuchtet die Lampe auf und die grossen Türen schieben sich zur Seite. Wir betreten den Mikrokosmos Fahrstuhl. Auf der Rückseite findet sich ein Spiegel, zur Linken die Bedienelemente für die Etagen sowie eine Informationstafel, wo welche Produkte gefunden werden. Der Grundfläche misst gerademal zwei Quadratmeter und soll für acht Personen Platz bieten. Die Traglast beträgt 630 Kilogramm. Für die nächsten zwei Stunden sind wir in diesem Raum.

Nach einigen Minuten steigt ein eher älteres Ehepaar auf Etage Nummer fünf ein. Er, etwas fester in einem weisskarrierten Hemd, sie, Typ Religionslehrerin. Böenartig breitet sich der Geruch nach Schweiss aus. Aus irgendwelchen Boxen trällert «Personal Jesus» von «Depeche Mode». Der Ehemann hat sich der Tasche nach ein Mobiltelefon gekauft. Obwohl die Fahrt nur einige Sekunden dauert, fühlt es sich nach Minuten an. Dem Pärchen geht es scheinbar gleich; sie suchen energisch den Autoschlüssel – schon fast verlegen. Denn ausgestiegen sind sie im Parterre – wo es weit und breit kein Auto in der Nähe haben kann. Das Phänomen des «Ich-such-was-dringend» wird von fast jedem zweiten Fahrgast ausgelebt. Sei es nun der Schlüssel, das Mobiltelefon oder Portemonnaie: Die Passagiere haben das verzweifelte Bedürfnis, sich mit etwas zu beschäftigen. Jede Ablenkung ist willkommen.

Doch woher kommt dieses Verhalten? Ist es die intime Nähe, die man versucht, mit einer Beschäftigung zu überspielen? Oder verdrängt man bloss die in diesem Moment extrem ausgeprägte Wahrnehmung des eigenen Verhaltens?

Die zweithäufigste Spezies ist der eher offene Typ. Er grüsst die anderen Fahrgäste mit einem «Grüäzi» oder «Hallo» – und verabschiedet sich auch dementsprechend. Keine Versuche, in den Jacken- oder Hostentaschen etwas krampfhaft zu suchen. Eher ein freundliches Lächeln oder sogar eine kurze Konversation kommt zu Stande – meist geht es aber dabei um die Frage, auf welcher Etage sich der Fahrstuhl befindet, ob es auf- oder abwärts geht. Manchmal gibt es sogar einen kurzen Smalltalk, wo es um die Arbeitspause geht, die Frage ob die Krawatte richtig sitzt oder ob die eine Leuchtröhre im Fahrtstuhl tatsächlich defekt ist.

Auffallend ist, dass Personen bei einer zweiten Begegnung im Lift viel aufgeschlossener reagieren. Man spürt schon fast eine gewisse Freude über das Wiedersehen. Doch woher kommt diese Offenheit? Ist es die Eventualität, dass der Lift stecken bleiben könnte wie in den Hollywood-Filmen und wir eine Schicksalsgemeinschaft werden könnten und so versucht wird, möglichst viel Sympathie zu gewinnen? Oder einfach der absurde Zufall, dass genau an diesem Punkt das Wiedersehen stattfindet? Einem Punkt, der durch seine räumliche Kompaktheit und Abgeschiedenheit eine enorme Intimität darstellt.

Man sieht in den vorgestellten Menschtypen schon fast den Urmenschen auf der Jagd. Durch die Zivilisation wird er gezwungen auf engstem Raum mit Konkurrenten seiner Spezies zu verharren. Nicht selten dringen sich die Menschen dabei gegenseitig in die Intimzone ein, was dazu führt, dass in ihnen Urinstinkte geweckt werden. Wird ein Objekt gesichtet, besteht die Möglichkeit anzugreifen, sich tot zu stellen oder zu flüchten. Anzugreifen wäre vergleichbar mit einem Small Talk, das tot stellen mit dem hilflosen Blick auf das Etagennummer-Display. Die Abneigung vor der Konfrontation mit den Mitmenschen führt soweit, dass es Personen gibt, die es vorziehen zu warten, bis der Lift leer wieder in ihrem Stockwerk hält, als mit anderen mitzufahren. Die Flucht.

Der Mikrokosmos bleibt zurück im dunklen Schacht. Ein Begegnungsort zwischen unterschiedlichen Ebenen untermalt von zurückhaltendem Soft-Rock. Die Kommunikation mit dem Gegenüber beschränkt sich auf kurze Blicke, auf der ständigen Suche nach einem Anhaltspunkt – welcher sich meist an der Decke findet. Ja, Fahrstühle haben wahrscheinlich nicht viele spannende Geschichten zu berichten. Aber über das Verhalten des Homo sapiens wissen sie sehr viel.Das auf und ab eines Mikrokosmos 02