Meine Stadt: Edinburgh

Ein Ort, an dem Geschichten in der Luft pulsieren. Eine Liebeserklärung.
Von Livio Stöckli

Einige Tage nach Weihnachten vor zwei Jahren rannte ich entlang der King’s Stables Road. Die Gassen waren am Nachmittag plötzlich leer, schreiend blasse Beleuchtungen, Santas auf Schlitten, Schneemänner und der eine oder andere Engel hingen nüchtern in den Fenstern und wirkten seit Jahren verlassen, hatten sie doch im weihnachtlichen Tumult noch Touristen zum Betrachten und Staunen angehalten. Nun schienen sie ausrangiert, gesichtslos. Es schneite noch immer, und meine Frühjahrsjacke war nass. Doch ich fror nicht, viel zu zeitlos schien mein Gerenne über die Kopfsteinpflaster, vorbei am Kot der Pferdekutschen, vorbei an verwinkelten Kleinstläden und steilen Gassen («wynds» genannt). Ich muss wohl noch eine Zeit lang weiter gerannt sein, denn als ich beim Bahnhof Haymarket eintraf, hatte ich Schnee auf den Schultern, zentimeterweise. Urplötzlich hatte mich der Wetterwechsel überrascht. Doch das ist Edinburgh. Edinburgh geschieht urplötzlich und doch verliert man sich in dieser Überwältigung, weil man zu beschäftigt ist damit, fasziniert zu sein.

Genau wie das Wetter nach Laune umschlägt, schlägt die Stadt um. Die eben noch fröhlich wirkenden Kellner in den Pubs werden zu unanständigen Lausebengeln, der «Sheperds Pie» ist dann nicht mehr richtig warm, das Bier schmeckt fahl und die Musik wird wüst. Manch einer würde aufschreien ob gewisser Ungepflegtheiten, aber dann hat man Edinburgh nicht begriffen. In einer Stadt, die täglich die Anstandspflicht gegenüber Touristen hat, scheinen die ein, zwei unfreundlichen Stunden pro Abend fast erlebenswerter. Meistens ist dies die Zeit des Eindunkelns, wenn die gräulich schimmernden Fassaden, eben noch fröhliche Geschichten von Prinzen und Königen erzählend, zum düsteren Horrormoloch mutieren. Aus der Dunkelheit kriechen sie hervor, alle zwielichtigen Gestalten, die Edinburgh in der Geschichte mit sich trug. William Burke und William Hare, die in den Zwanzigerjahren des 19. Jahrhundert im West-Port-Bezirk wahllos Bürger ermordeten und die Leichen zu medizinischen Zwecken verkauften. Dr. Jekyll und sein Freund Mr. Hyde mit ihrer abgründigen Beziehung einer gespaltenen Psyche. Von den stillstehend wirkenden Monumenten entlang der Princes Street bis zu den versteckten Friedhöfen unten an der Royal Mile wirkt dann alles hellhörig. Skurrile Schatten scheinen in jeder Gasse zu lauern, die nicht ausreichend von den altertümlichen Laternen beleuchtet wird (und das ist bei den meisten so).

In der Zeit, die ich in dieser Stadt verbrachte, bin oft auf den King Arthur’s Seat spaziert, habe mich ein, zwei Stunden hingesetzt und von oben die Stadt betrachtet. Dieses seltsam heimatliche Werk besitzt einen unnatürlichen Charme, dem schon Philosophen und Aufklärer nicht widerstehen konnten. Zahlreiche Belagerungskriege, Plagen und Katastrophen wurden hier überstanden. Kriege proklamiert, Paraden abgehalten, Bündnisse geschlossen, Märchen erzählt. Man muss nur einatmen, Edinburgh ist voll davon. Voll von Ereignissen, voll von Geschichten. Die alte Stadt, die tausend Namen zu tragen scheint, wie zum Beispiel «The Auld Reekie» (Die alte Verräucherte), «Athen des Nordens» (aufgrund der vielen Säulen) oder «Stadt der sieben Hügel», verteilt Geschichten. Jeder, der vorbei kommt, sollte sich zumindest einige Stunden in den Park, die Princes Street Gardens, setzen und zuhören, die Stadt erzählt von alleine.

Als ich nach Edinburgh kam, hatte ich keine Geschichten, als ich ging, hatte ich hunderte davon.