H.R. Giger und das philosophische Pissoir. Eine Abhandlung. (3/3)

Die Giger Bar konfrontiert ihre Gäste mit einer seltenen Überraschung, und zwar an einem Ort, an dem niemand konfrontiert werden sollte – auf dem WC. Diese Abhandlung ist eine Suche nach Antworten auf philosophische Fragen, die auf dem stillen Örtchen gestellt werden.

4. Die Verunsicherung der eigenen Persönlichkeit

Hat sich der Mensch nämlich einmal mit seiner Erscheinung, beziehungsweise mit der Erschei­nung der ganzen Spezies «Mensch» auseinandergesetzt, beginnt er meistens unmittelbar an de­ren Bedeutung zu zweifeln. Der Gedankengang könnte folgender sein:

1. Die Erscheinung des Menschen ist uns Gewohnheit

2. Eine Gewohnheit beschreibt nie die einzige Möglichkeit

3. Die Evolution fördert verschiedene Möglichkeiten, der Mensch ist eine davon

4. Unsere Erscheinung ist demnach nicht mehr als ein Zufallsprodukt, eine Möglichkeit der Evolution

5. Die Erscheinung eines Menschen prägt grundliegend dessen Wesen

6. Ist die Erscheinung ein Zufallsprodukt, so ist es das Wesen auch

7. Ein Zufallsprodukt ist nie verbunden mit Absicht

8. Eine Absicht hinter der Spezies «Mensch» ist also unwahrscheinlich

9. Wo es keine Absicht gibt, kann es kein Endziel geben

10. Ohne Endziel schwebt der Mensch schwerelos in seiner Existenz

11. Die Existenz ist unendlich, da schwerelos, und der Mensch ein Teil davon

12. Der Mensch ist lediglich eine Möglichkeit der Existenz

Dieser Gedankengang beschreibt lediglich eine Variante und muss und wird kaum mit der Ab­sicht Gigers übereinstimmen. Man kann jedoch nicht bestreiten, dass ein solcher Ablauf die Di­mensionen, in denen sich der Mensch bewegt, vergrössert und somit den Menschen kleiner er­scheinen lässt, was automatisch zur Folge hat, das ein mancher sich verloren und wertlos fühlt. Dies führt schlussendlich zu einer Verunsicherung, welche früher oder später den Kreis schliesst und bei einem «Grundproblem» des Menschseins ansetzt – nämlich bei der Konfrontation mit den Auswirkungen der eigenen Sexualität.

5. Auseinandersetzung des Mannes mit der Zerstörkraft der Wirkungen der Männlichkeit aus direkter Sicht, sozusagen „vor dem Panzer“

H.R. Giger galt schon immer als Exot, nicht nur in der Kunstszene, sondern auch als Privatperson. Dieser Exot könnte mit dem Anbringen des Spiegels am Pissoir ein simpler Versuch begangen haben, den Mann mit einem seiner Kernprobleme, der kriegerischen Natur, zu konfrontieren. Phallussymbole wurden wie oben erwähnt schon immer als Zeichen von Fruchtbarkeit gedeutet und eine hohe Fruchtbarkeit symbolisierte früher eine grosse Manneskraft. Noch heute werden diverse, wie man meinen könnte, alltägliche Gegenstände zur Demonstration der Manneskraft missbraucht. Hierbei an vorderster Front sicherlich Fahrzeuge und Uhren. Es muss wohl kaum erläutert werden, welche kulturellen und gesellschaftlichen Opfer die unendlichen Demonstrati­onen von Manneskraft über die Jahrtausende gefordert haben. Ganze Völker wurden ausgerot­tet, Städte zerstört, Länder erobert und vieles nur, da geklärt werden musste, wer der stärkere ist. Nur ist sich ein Mann dieses Triebs selten bewusst – er drängt meist unmerklich an die Oberfläche. Sobald sich eine Konkurrenzsituation ergibt, beginnt das Blut zu rauschen. Gegen­mittel gegen diesen zerstörerischen Urtrieb ist einzig die Bewusstmachung, die direkte und un­missverständliche Konfrontation, in welcher der «Lauf der Waffe» auf sich selbst gerichtet ist und bewusst wird, was deren Missbrauch auslöst. H.R. Giger ist Künstler. Künstler haben einen Hang zum Extremismus. Ob Giger im Anbringen des Spiegels am Pissoir ein Akt der Weltbesse­rung sah, weiss man nicht. Man kann es hoffen. Nur so viel: Die Angestellten selbst, haben keine Ahnung, wieso der Spiegel hängt, wo er hängt. Vielleicht war es doch einfach ein Jux.

H.R. Giger war unterdessen für eine Stellungnahme nicht erreichbar.

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