Beautiful Crazy India

Wetten, dass? du dich noch an unser „Wetten, dass – HTW Edition“ erinnerst? Für drei Wochen war ich im norden Indiens unterwegs und habe das Hilfsprojekt Bal Krriti, das durch eure Spenden unterstütz wurde, besucht.

Im Land der heiligen Kühe in dem “holy shit” endlich einen Sinn ergibt, ist das Reisen keine leichte Kost und ein Frontalangriff auf alle Sinne.
Gerüche wie aus einer Gewürzküche gepaart mit Gestank aus Urin, Abfall, Schweiss und weitere nicht definierbare Gase.
Die Ohren werden mit permanentem Lärm zugedröhnt. Ununterbrochenes Hupen, lautstarkes Diskutieren, kläffende Hunde, muslimische Gebetshymnen und Gemüsehändler die Lautstark ihre Ware anpreisen, gehören zur Nacht- bzw. Tagesordnung.
Die Augen werden mit der gesamten RGB Farbpalette berieselt. Orange, Gelb, Grün, Violett, Blau, Pink jede Wand trägt eine andere Farbe und die indischen Frauen passen sich mit ihren Saris ebenso farbenfroh ihrer Umgebung an.
Die Kultur so fremd, so unfassbar und voller Geschichten und Mysterien. Hindus, Muslime, Buddhisten, Christen, Sikhs, Jains – hier treffen unzählige Religionen aufeinander. Die indischen Menschen sind voller Lebensfreude und besitzen eine nahezu grenzenlose herzliche Offenheit, die ich so noch selten erlebt habe. Jeder Tag ist voller neuer Erfahrungen und drei Wochen fühlen sich an, als hätte man ein ganzes Jahr durchlebt.

Ich befinde mich in einem Chaos von Menschen und Tieren die kreuz und quer durch die Strassen laufen, zwischen riesigen Lastwagen und kleinen flinken Rikschas, mitten in Jaipur. Im Stadtteil Moti Nagar befindet sich die Schule ABCDS. Teilweise auf Schulbänken, teilweise auf Decken, die am Boden ausgebreitet sind, sitzen Kinder zwischen 2 und 12 Jahren aus den umliegenden Slums.

Diese Kinder mit den grossen dunklen Augen starren mich an. Mein Herz schmilzt dahin und ein „jöööö so herzig“ rutsch mir ungebremst über die Lippen. Wer mich kennt weiss, dass ich sonst kein sonderlicher Kinderfan bin. Man sieht die Neugier in ihren Augen, ihr Wissensdurst ist riesig. Als ich meine Kamera auspacke setzen sie sich gekonnt in Szene. Es scheint mir als seien Inder von Natur aus Schauspieltalente und überaus fotogen. Ihr schweres Los ist ihnen nicht anzumerken.
Armut, Gewalt, Krankheiten, arrangierte Kinderhochzeiten sind nur einige der für mich unfassbaren Dinge, welche für diese Kinder alltäglich sind. Eine Abwechslung und vielleicht auch eine lebensverändernde Chance sind vier Lehrer, die im Rahmen des Projektes Bal Krriti, jeweils nachmittags Englisch, Hindi, Allgemeinwissen, Zeichnen und Spiele unterrichten.
Immer wieder besuchen die Lehrer die umliegenden Slums, um die Eltern davon zu überzeugen ihre Kinder in die Schule zu schicken.

Ich hatte nur eine wage Vorstellung was mich dort erwartet. Die Grösse dieser Slums könnte die Churer Altstadt überdecken. Die Zelte sind klein, eng und unstabil. Sie bieten keinen Schutz, weder gegen den gerade anhaltenden Monsun noch gegen andere Umwelteinflüsse. Es wird mir erklärt, dass die Eltern oftmals nicht verstehen, weshalb die Schule wichtig ist. Für sie ist es sinnvoller, dass ihre Kinder arbeiten gehen. Gleichzeitig sorgen sie sich um ihre Kinder, denn in gewissen Schulen ist es selbstverständlich, dass Kinder als Strafe geschlagen werden.

Dieses Mal ist die Überzeugungsarbeit ein voller Erfolg. Am nächsten Schultag erscheinen zwanzig neue Gesichter. Den Unterschied merke selbst ich sofort. Die Neulinge sind laut, unruhig und die Konzentration fällt ihnen schwer. Was für mich und dich als selbstverständlich und normal erscheint, muss hier oftmals mit viel Geduld erklärt werden. Still sitzen, ruhig sein, nicht ins Wort fallen wird uns von Kindesbeinen an als selbstverständlich eingetrichtert – nicht aber in Indien. Die Probleme sind unglaublich komplex und ich kann das Manko an alltäglichem Wissen manchmal kaum fassen – oder würdest du deine verschriebene Tablette direkt auf deine Wunde streuen oder die Wunde mit Zeitungspapier verbinden?

Den Grat zwischen der Kultur verstehen, akzeptieren und trotzdem die Menschen zu fördern, dazu gehört eine grosse Portion Feingefühl.
Mir wird schnell klar; hier geht es nicht darum einen europäischen Standard einzuführen, sondern Wissen zu vermitteln, welches Lebensnotwendig ist und das nicht nur für die Kinder im Bal Krriti-Projekt, sondern auch für deren Eltern ist. Ein Wissen, welches den Ärmsten dieser Welt nicht einfach so zufällt.

Das Indien das ich bereits zum zweiten Mal erlebe, ist komplett anders. Normalerweise bekommt man als Tourist die Probleme nur am Rande mit. Man weiss, dass sie da sind, aber sind wir mal ehrlich, man möchte den Urlaub geniessen. Ich lerne indische Familien kennen, besuche sie in ihren Häusern, trinke mit ihnen Chai, erlebe ihre Gastfreundschaft (die indische Hausmannskost ist köstlich und kann keines Falls mit Restaurant- oder Strassenfood verglichen werden), ihre Kultur, aber auch ihre Probleme.
Es wird über freudiges berichtet, wie den anstehenden “Independence Day” oder, dass der Sohn bald verheiratet wird.
Der Wermutstropfen – ich weiss, dass diese Heirat weder vom Bräutigam noch von der Braut gewollt ist. Und genau an so einem Punkt fängt die Gratwanderung an, diese Kultur zu verstehen, die vor tausenden von Jahren entstanden ist und überhaupt nichts mit meiner Ideologie vom Leben zu tun hat.
Ja – viel habe ich gelernt, noch mehr habe ich gesehen und über noch so viel mehr könnte ich berichten.

Nach drei Wochen 24-Stunden-Programm trete ich meine Heimreise in die gute, saubere und geordnete Schweiz an und nehme einen Rucksack voller bunter lauter und intensiver Erfahrungen mit. Zusätzlich bringe ich euch ein herzliches Dankeschön vom Development+ Team und dreissig neu eingeschulten Kindern mit. Durch eure Spende ist ein Jahr Schule, Schulmaterial, Schulbücher und die schulbegleitende Betreuung gewährleistet.

Mehr Infos und den Termin für den ausstehenden Wetteinsatz “Veloservice” findest du auf unserem Blog.