Big City West

Des einen Freud, des anderen Leid.
Zwei Ansichten zum wohl grössten Shoppingcenter im Kanton Graubünden.

Des einen Freud …
Chur, die älteste Stadt der Schweiz. So präsentiert sie sich teilweise noch heute.

Seit über 22 Jahren wohne ich hier in der Gegend. Die Kinos sind noch immer dieselben und langsam aber sicher veraltet, für einen Kinobesuch lohnt sich immer mehr eine Reise ins nahegelegene Hohenems (AT). Oder auch wenn ich ein Unihockeyspiel der höchsten Schweizer Liga besuche, muss ich für das Telefonieren die Turnhalle verlassen. Denn in der Sportanlage gibt es nicht einmal Handyempfang.

Nun schmücken zwei neue Türme die Stadt. Und mit dem neuen Einkaufszentrum City West wird Chur sogar ein bisschen moderner. Seit Monaten habe ich mich auf die Eröffnung gefreut. Denn was in anderen Städten schon längst normal ist, ist endlich auch in Chur möglich: Viele Stores in einem Gebäude zusammengefasst, auf zwei Etagen können wir Frauen uns stundenlang vergnügen. Und wenn wir das Geschäft wechseln, müssen wir nicht jedes Mal den Regenschirm zur Hand nehmen, unser Make-up verschmiert nicht und der Wind macht nicht unsere Frisur kaputt.
Das neue Einkaufszentrum bietet zudem verschiedene Stores für verschiedene Geschmäcker, ob sportlich, chic oder elegant.

Bekannt ist City West schon jetzt für den riesigen Coop. Überdimensional – fast wie in Amerika. Ich kann zwischen gefühlten 100 Joghurtsorten und 1000 verschiedenen Teigwarenarten auswählen. Es ist zudem auch möglich, sich einen Orangensaft selber frisch zu pressen und dazu sein Lieblingsbrötchen zu kaufen. Es ist einfach schön, dass nun auch ich eine solche Auswahl geniessen darf, ohne dass ich in eine andere Grossstadt reisen muss. Und die kleinen Geschäfte in den Bergregionen werden wegen des neuen Einkaufzentrums City West ihre Kundschaft nicht verlieren. Im Gegenteil, den Alpkäse oder eine feine Engadiner Hauswurst werde ich auch in Zukunft noch beim Bauern kaufen.

… des anderen Leid
Schon bei der Wohnungsbesichtigung im Juli 2010 hat mich die wahnsinnige Aussicht vom Balkon in der Salvatorenstrasse beeindruckt. Über den Dächern von Chur konnte ich dann nach unserem Einzug jeden Abend den Ausblick in Richtung Bündner Oberland geniessen: Bei sonnigem Wetter konnte ich, so schien es zumindest, unendlich weit in die Berglandschaft hineinsehen. Der klare, blaue Himmel und die begrünten Berge liessen mich immer wieder staunen und meine Arbeit, wenn auch nur für ein paar Minuten, unterbrechen. Gegen Abend leuchteten die Berge dann in allen Farben des Sonnenuntergangs, hoben sich später schwarz vom immernoch hellen rot des Himmels ab, bis es ganz dunkel wurde.

Irgendwann begann ich mich zu fragen, für was denn die Baukräne da standen? Und wieso wurden die nach ein paar Wochen nicht wieder weggeräumt? Stattdessen sah es so aus, als ob da etwas Grösseres gebaut werde. Und siehe da: Einige Zeit später standen zwei Türme … inmitten meiner geliebten Aussicht. Sie verdecken nun die eine Seite des Tals, die Berge und auch den Himmel, ragen unübersehbar quer durch die Natur.

Als klar wurde, was genau da gebaut wird, habe ich rundherum eigentlich nur Positives gehört: Endlich ein Coop (und dann noch ein Megastore!) in diesem Quartier, endlich shoppen in der Nähe der HTW, noch eine Möglichkeit mehr, etwas zum Mittagessen zu finden … so ging es in einem fort. Es wurden regelrechte Lobeshymnen auf das Shoppingcenter City West gesungen. Dementsprechend fieberte ein jeder der Eröffnung vom 11. November entgegen, um sich so bald wie nur irgend möglich ins Gewühl zu werfen und die Hälfte der Läden leer zu kaufen. Aber kann mir einmal jemand erklären, warum ein Coop gleich neben einem grossen Migros nötig ist? Oder wieso ein C&A, H&M, NewYorker, etc. in der Altstadt UND zehn Gehminuten davon entfernt in einem Einkaufszentrum präsent sein muss? Ist vielleicht irgendjemandem einmal aufgefallen, dass eventuell einer der beiden Läden dann auf Dauer nicht mehr rentiert und zumachen muss? Ich bin mir sicher, es wird nicht derjenige im City West sein, sondern der in der Altstadt ohne direkte Autobahnausfahrt und Parkmöglichkeiten. Will heissen: Vermutlich gibt es irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft nur noch das Shoppingcenter. Die Altstadt wir in ein Wohnquartier umgewandelt, das Leben findet ausserhalb statt.

Da soll mir doch mal einer erzählen, ein Einkaufszentrum bedeute Lebensqualität …