Nächster Halt: Olten

Ein Ort, ein Nachmittag, drei verschiedene Figuren. Ein einziger Moment kann aus einer anderen Perspektive eine völlig andere Geschichte wiedergeben. Drei MMP-Studenten haben sich drei Perspektiven angenommen. Der gemeinsame Schauplatz: der Bahnhof Olten.

Lena
Ihr Herz raste und schlug so schnell, wie das eines kleinen Kaninchens. Sie versuchte, an etwas Schönes zu denken. Zum Beispiel an die grosse Baumschaukel, die auf sie wartete. Mit der schaukelte sie besonders gerne. Jedes Jahr versuchte sie höher zu schwingen, bis zum Ast hinauf, an dem die Schaukel befestigt ist. Vielleicht schafft sie dieses Jahr endlich den Überschlag.

Regen tropfte an das Zugfenster. Ihre Augen huschten vor und zurück, während sie der Landschaft nachsah, die draussen an ihr vorbei zog. Bald war es soweit. Lena schaute zum hundertsten Mal auf die Fahrkarte, die sie fest in ihrer kleinen Hand hielt. Olten, Gleis 11. Das konnte sie bereits lesen. Ihre Mutter hatte die Abfahrtszeit und die Gleisnummer mit pinkem Leuchtstift markiert. Lena mag Pink. Sie merkte, wie die Aufregung, die für kurze Zeit abgeflaut war, wieder aufstieg. Ihre Hände wurden kalt. Der Lautsprecher knackte, dann hörte sie die Stimme des Kondukteurs plärren: «Meine Damen und Herren, in Kürze treffen wir pünktlich im Bahnhof Olten ein. Ihre Anschlussverbindungen sind der Eurocity nach Bern, Thun, Spiez, Interlaken auf Gleis 11.» Das war ihr Zug! Lena packte ihren kleinen Rucksack und stand auf, vorbei an der alten Dame in ihrem Abteil, die das kleine Mädchen neugierig musterte. Noch etwa zwei Minuten stand Lena vor der Zugstür, während sie in den Bahnhof einrollten.

Es fühlte sich an wie 10 Minuten. Endlich – mit einem Ruck – kam der Zug zum Stehen und sie drückte auf den Aufmach-Knopf. Draussen drehte sie den Kopf in alle Richtungen und versuchte, sich zu orientieren. Der Bahnhof sah ganz anders aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Viel grösser! Sie schluckte einen drohend wachsenden Kloss hinunter und beschloss, mit der Menge mit zu gehen. Sie ging schnell. Ein Erwachsenenschritt bedeutet drei Lena-Schritte. So viele Menschen, die irgendwo hinwollten! Sie sah Rollkoffer, Handtaschen, Kinder, Kinderwagen, Turnschuhe und einen Typ auf einem Skateboard, der an ihr vorbei rollte. Sie blieb stehen und sah ihm nach. Ihr Cousin hatte auch so eins! Er hatte sie bis jetzt nie damit fahren lassen, sie sei zu klein. Und ein Mädchen. Grimmig presste Lena die Lippen aufeinander. Dieses Mal möchte sie damit fahren – egal was ihr Cousin dazu meint!

Sie lief weiter. Welches Gleis schon wieder? 11! Wo war 11? Klar, gleich nach 10. Sie ging der Unterführung entlang und zählte mit: Gleis 7, 8, 9, 10… Hier musste sie rauf! Wo war der Zug? Erschrocken – das Herz schlug ihr bis zum Hals – sah sie auf die grosse Uhr, welche neben der Anzeigetafel hing. Hatte sie jetzt doch den Zug verpasst? Nein. Sie beruhigte sich wieder etwas. Neben ihr war ein Mann mit einem Hund. Ein ganz grosser, mit goldenem Fell und braunen Augen. Er sah genauso aus, wie Moos, der Hund den Lenas Familie hatte, bevor er zu alt wurde, und sie ihn einschläfern mussten.

Zufrieden setzte sie sich in ein Abteil und schaute aus dem Fenster. Ein junges Mädchen setzte sich zu ihr, Lena sah auf. Das Mädchen hatte ein blaues flauschiges Bärenkostüm an. Plötzlich fiel Lena etwas ein. Sie packte ihren Rucksack, öffnete ihn und suchte nach Knusper ihrem pinken Plüschhasen. Aber sie fand ihn nicht! Er war wohl zu Hause geblieben. Lena stiegen Tränen in die Augen. Sie fühlte sich auf einmal ganz allein. Und dann wurde sie wütend. Wütend-traurig. Sie war doch jetzt erwachsen! Sie durfte nicht wegen Knusper weinen. Sie kann schliesslich Zugfahren! Doch plötzlich vermisste sie ihren Hasen so sehr, wie noch nie. Trotzig schaute sie aus dem Fenster und sah zu, wie der Bahnhof Olten verschwand und sie immer näher nach Bern und zu ihrer Tante kam. Tränen tropften ihr übers Kinn.

Armand
Ein roter Lastwagen donnerte über den nassen Asphalt. Es regnete. Armand bezahlte den Fahrer in bar, öffnete die Tür des Taxis und stieg aus. Er war gelernter Journalist. Seit knapp fünf Jahren lebte er in Europa. Damals floh er vor dem Krieg in seiner Heimat und bekam schliesslich in Österreich Asyl. Als er vor kurzem mitbekommen hatte, dass seine Recherchearbeiten über die Interessen der Konfliktbeteiligten nun auch ins Visier der westlichen Mächte gekommen sind, hatte er beschlossen, sein zweites Zuhause zu verlassen. Armand zündete sich eine Zigarette an und schaute sich um. Dann machte er sich zu Fuss auf den Weg zum nahegelegenen Bahnhof Olten.

Armand hatte nur noch wenig Bargeld, sein Bankkonto wurde vor drei Wochen plötzlich gesperrt. Seither lebte er nur noch von dem, was er schon hatte oder auf dem Weg erbetteln konnte. Viel Geld hatte er aber schon ausgegeben, um bis hierhin zu kommen.

Es war nicht einfach gewesen am Wiener Hauptbahnhof an den vielen CIA-Agenten – die er zum Teil nicht mal gesehen hatte – vorbeizukommen. In der Schweiz war er dann gezwungen, den öffentlichen Verkehr zu meiden. Scheinbar war es hier für den amerikanischen Geheimdienst einfacher, die Bahnhöfe zu überwachen. Armand wollte es bis zu seinem schwedischen Berufskollegen nach Bern schaffen, den er über eine Internetverbindung kontaktiert und um Hilfe gebeten hatte. Dieser hatte ihm mitgeteilt, dass beim letzten Eisenbahnwagen des Eurocity, welcher um 16.12 Uhr von Olten Richtung Bern losfuhr, die Türe nicht abgeschlossen wäre. So könnte er unbemerkt bis nach Bern fahren und dann Schutz in der schwedischen Botschaft suchen. Gut möglich, dass dies ein Hinterhalt war, Armand blieb jedoch nichts anderes übrig, als es zu versuchen. In der – wahrscheinlich nur bedingt – sichereren Situation wäre er aber erst, wenn er in der Botschaft ankommen würde.

Zehn Meter vor ihm stieg gerade eine Gruppe von Menschen aus einem Bus aus. Mit fünf grossen Schritten schloss er zur Gruppe auf und versuchte, möglichst gleichmässig und unauffällig mit ein paar Leuten den Bahnhof zu betreten.

Sie öffnete sich. Armand stieg schnell ein und versicherte sich mit einem Blick zurück, dass ihn niemand beobachtet hatte. Er schloss die Tür und versteckte sich hinter zwei grossen Paketen auf dem Boden. Der Zug fuhr pünktlich los.

Gerda
Es war später Nachmittag und das Zugabteil fast leer. Nur vereinzelt sassen Leute. Und alle waren in ihr eigenes Leben vertieft. Dachten an das bevorstehende Abendessen, an das heutige Fernsehprogramm oder schon an den nächsten Tag auf der Arbeit. So belanglos, so unbeschwert. Der Lautsprecher knackte, dann hörte sie die Stimme des Kondukteurs murmeln: «Meine Damen und Herren, in Kürze treffen wir pünktlich im Bahnhof Olten ein. Ihre Anschlussverbindungen sind…» Bald war es soweit. Fast den halben Tag hatte sie gebraucht, um in die Stadt zu fahren. Jetzt würde alles gut werden.

Sie wartete geduldig, bis der Zug still stand. Sie schaute zum hundertsten Mal auf ihre Uhr, die locker um ihr knochiges Handgelenk hing. Als sie aufstand, warf sie nochmals einen prüfenden Blick zurück auf ihren Sitzplatz. Das war die Gewohnheit, heute hatte sie nichts mitgenommen. Kein Gepäck, keine Taschen, wie es sonstige Pendler tun würden. Langsam bewegte sie sich Richtung Ausgang. Sie hasste nichts mehr, wenn die jungen Leute sie bedrängten, ja sogar beim Aussteigen überholten. Sie hatte ihr eigenes Tempo. Im Bahnhof herrschte wildes Treiben. Vor dem Kiosk stand eine Gruppe Jugendlicher nichtstuend, nur um sich die Zeit zu vertreiben. Sie verärgerten die Kioskfrau, die um ihre Kundschaft bangte. Andere hasteten mit schnellem Schritt zu ihrem Gleis, zogen ihre plärrenden Kinder hinterher. Alles ganz gewöhnlich. Und doch hatte sie irgendwie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie ging weiter und liess sich mit dem Strom treiben. Schwer atmend, kam sie auf Gleis 11 an.

Sie musterte den Koffer genau. Keine Adressetikette. Was nun? Das Gleis war fast leer, nur ganz vorne war ein Kondukteur zu sehen, der gerade die Abfahrt des Zuges signalisierte. Um den Zug nicht zu verpassen, zog sie kurzerhand den Koffer mit sich in den Zug. Der kleine Koffer war ungewöhnlich schwer, weil eine der vier Rollen klemmte. Sie stiess den Koffer vor sich her und setzte sich in ein Abteil nahe dem Eingang. Ein vergessener Koffer. Eigentlich fand sie das ziemlich aufregend. Sie merkte, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann. Seit langem hatte sie wieder das Gefühl, etwas Aufregendes zu erleben. Was jetzt? Sie konnte nicht einfach aufstehen und die Leute um ihre Aufmerksamkeit bitten. Sollte sie sich an den Kondukteur wenden? Ihre Hände wurden zittrig. Sie faltete sie in ihrem Schoss und sah sich um. Keiner hatte sie bemerkt, oder den Koffer, der nicht der ihre war. Ihr Blick fiel wieder zurück auf den Koffer. Auf der schmalen Seite war er mit zwei silbernen Schnallen geschlossen. Vorsichtig versuchte sie, eine davon zu öffnen. Klack! Während der Zug aus dem Bahnhof hinaus tuckerte, öffnete sie behutsam die zweite Schnalle. Ihr Blick erstarrte, als sie erkannte, was für einen Koffer sie da mitgenommen hatte.

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(le)

Kritik
von Sebastian Hubacher, Miriam Meier und Nora Pfund

IDEE

Da wir drei ein Faible für das Medium Text haben, war es unsere Idee, zusammen eine Kurzgeschichte zu schreiben. Um die klassische Form der Kurzgeschichte zu brechen, haben wir uns überlegt, die Geschichte, die sich an einem Ort abspielt, aus mehreren Perspektiven zu erzählen. Schauplatz ist bei allen der Bahnhof in Olten, an einem Wochentag kurz vor Feierabend. Was zudem speziell ist: Die Geschichte wird nur so lange erzählt, bis die Person den Bahnhof Olten wieder verlässt. Mit diesem Konzept bleiben die Enden der Geschichten offen und es entstehen spannende Cliff Hanger.

VORGEHEN/SCHWIERIGKEITEN

Neben all den Projekten während des Semesters war es nicht leicht, progressiv an diesem Projekt zu arbeiten. Wir trafen uns zuerst, um Ideen und Themen für mögliche Geschichten auszuarbeiten. Auf diesen Ideen basierend, führten wir eine Kreativübung durch, wo jeder ein paar Sätze schrieb, die der andere dann wieder weiterführte. Danach ging es darum, ein Konzept zu entwickeln. Wir wollten nicht nur blanken Text formulieren. Der Text sollte aufgelockert werden, der Lesefluss aber nicht gestört werden. Gleichzeitig machten wir uns daran, jeweils unseren Teil für die Geschichte schreiben. Nora schrieb den ersten Teil und baute viele verschiedene Personen ein, in die wir uns dann hineinversetzen konnten. Die Texte haben wir via Google Drive geteilt, damit man immer auf dem neusten Stand war, gleichzeitig korrigieren und sich inspirieren lassen konnte. Erst zum Schluss hin haben wir die die drei Geschichten zusammengetragen und die Details abgestimmt. Als der Text sass, haben wir zusammen die Audio-Spuren aufgenommen. Schwierig gestalteten sich formale Sachen, wie zum Beispiel die Zeitform festzulegen und Überschneidungen in der Geschichte anzupassen.

MULTIMEDIALITÄT

Damit unsere Geschichte das Kriterium Multimedialität erfüllt, haben wir uns entschieden, einige Textpassagen als Audio-Spur aufzunehmen. Die Idee dahinter ist, dass die Geschichte trotzdem als einheitliches Erlebnis wahrgenommen wird und der Leser im Lesefluss nicht gestört wird.
Damit wir aber alle Leser erreichen können (auch diejenigen, welche keine Audiodateien abspielen können oder wollen) haben wir die komplette Geschichte auch als PDF-Datei hinterlegt.

FAZIT

Was uns zufrieden stellt: Wir finden, dass es uns gelungen ist, eine Kurzgeschichte in einer aufregenden, neuen Form darzustellen. Auch haben wir – unabhängig voneinander – drei völlig unterschiedliche Geschichten und Figuren erschaffen!

Was wir besser machen können: Um bei solchen Projekten effizienter zu arbeiten, wäre es von Vorteil, von Anfang an eine konkrete Idee zu verfolgen und keine längeren Pausen einzulegen, denn so kommt man leicht aus dem Kreativitäts-Flow. Ausserdem war es dann schwierig, wieder in den Flow zu kommen und sich quasi «auf Knopfdruck» eine Geschichte auszudenken.

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