Corona uf de Gass

Lockdown, Homeoffice und Verzicht auf soziale Kontakte – Corona hat uns alle betroffen. Das Virus hat bei vielen Leuten Ängste oder Verunsicherungen ausgelöst. Am Rande unserer Gesellschaft gibt es Menschen, die während der Pandemie mit einer Doppelbelastung zu kämpfen haben: Zusätzlich zu den Hygiene- und Abstandsmassnahmen müssen sie Tag für Tag mit ihrer Sucht leben.

Unsere Reportage zeigt, wie randständige und suchtkranke Menschen in Chur mit dem Virus und den Bestimmungen des Bundes umgegangen sind. Für diese Menschen sind geordnete Tagesstrukturen und soziale Kontakte essenziell. Während der Coronakrise mussten sie auf viele Angebote von verschiedenen Institutionen verzichten. Soziale Interaktion holen sich viele Suchtkranke zumeist im Churer Stadtgarten, der ihnen seit vielen Jahrzehnten als Treffpunkt dient. Auch dort wurden sie jedoch mit verschiedensten Einschränkungen konfrontiert.

Chur ist eine der grössten Städte in der Schweiz mit einer offenen Drogenszene: Im Stadtgarten wird in aller Öffentlichkeit gespritzt, gedealt oder geraucht – auch während Corona. Die Fachleute in Chur sind sich einig: Es braucht einen Konsumationsraum mit Kontakt- und Anlaufstelle. In den letzten 20 Jahren hat sich im Kanton Graubünden in Sachen Drogenpolitik nicht viel getan, doch nun scheint eine Lösung in Sicht…

(spu)

Kritik
von David Marbach und Milena Burch

Idee

Seit bald zwei Jahren wohnen wir in Chur und wurden immer wieder mit der Situation im Stadtpark konfrontiert. Ein Nachbar berichtete von «platzspitz-ähnlichen» Zuständen vor unserer Haustüre. Am Bahnhof wurden wir auffällig häufig nach «Münz» für die Notschlafstelle angesprochen. Als wir in unserem Majorunterricht «Videoformate Nonfiktional» mit dem Dreh unseres Trailers begannen, statteten wir der Gassenküche oberhalb von Chur einen Besuch ab. Wir filmten die Köchin beim Kochen und assen mit den Besuchern zu Mittag. Da hat es uns gepackt. Nach dem Dreh haben wir uns gegenseitig gesagt: «Wir müssen etwas machen.» Da der Trailer für das Major coronabedingt ins Wasser fiel, nutzten wir die Zeit für ein erstes Interview per Zoom mit dem Betriebsleiter der Überlebenshilfe Graubünden, zu deren Angebot neben der Gassenküche auch eine Notschlafstelle und Betreutes Wohnen gehört. Von diesem ersten Interview an ergab sich einen Dreh nach dem anderen.

Umsetzung

Wir sprachen mit Fachleuten und Politikern in Chur. Wir führten längere Interviews mit drei Direktbetroffenen. Nach den ersten Drehtagen haben wir gemerkt, dass wir mit diesem Thema den Nerv der Zeit getroffen haben. Die Forderungen nach einem Konsumationsraum werden in Chur immer lauter. Die Abklärungen des Kantons laufen länger als erwartet und sollen im August vorliegen. 

Bei jedem Dreh kam ein neuer Name ins Spiel: «Habt ihr schon mit ‘XY’ geredet?» Also sprachen wir auch noch mit «XY» und mit «YZ». Nun blicken wir auf zehn Interviews, ein Dutzend Drehtage und unzählige Stunden im Schnitt zurück. Da wir über die doch sehr komplexe Situation in der Churer Drogenszene mit allen Angeboten erst nach einigen Wochen einen einigermassen umfassenden Überblick gewannen, konnten wir die ganze Reportage nicht wirklich im Voraus planen. Gleichzeitig entwickelte sich auch die Coronasituation andauernd weiter, was uns zwar mehr Möglichkeiten bei den Drehs ermöglichte, aber auch die Umstände der Betroffenen stetig veränderte.

All diese Umstände, aber vor allem die zu wenig detaillierte Planung des ganzen Projekts, erschwerten uns die Arbeit im Schnitt wesentlich. Ende Mai sassen wir mit knapp 250 GB Material und mit hunderten von Quotes auf unseren Festplatten zu zweit in unserem speziell für dieses Projekt konzipierten Wohnzimmer-Studio. Natürlich hatten wir uns ein grobes Konzept zurechtgelegt. Wir wussten ziemlich genau, worauf wir den Fokus legen wollen: Auf das Leben der Randständigen zu Coronazeiten und auf die offene Drogenszene in Chur, mit all ihren Problemen und Defiziten. Trotzdem wussten wir nicht so recht, wie und wo wir mit unserer Reportage beginnen sollen. 

Zuerst sichteten wir das Material und schnitten die besten Quotes aus den verschiedenen Interviews. Anschliessend schrieben wir die Aussagen auf «Post-its» und klebten sie auf die Wohnzimmerwand. Danach begannen wir die Quotes nach Thematik und Qualität zu sortieren und einen groben Rohschnitt auf Papier auszuarbeiten.

Als wir mit dem Schnitt in Premiere begannen, stellten wir den Schnittplan auf Papier noch einmal auf den Kopf. Während des Schneidens des Rohschnitts standen immer wieder Drehs auf dem Programm. Wir haben bald gemerkt, dass uns doch einiges an B-Roll fehlt. Als sich nach einigen Tagen ein erster Rohschnitt herauskristallisierte, sahen wir die Reportage viel mehr vor uns. Allerdings wurden wir auch mit Lücken im Schnitt konfrontiert, die es im Endspurt mit weiteren Drehs mit unseren Protagonisten zu füllen galt. Schneiden, organisieren, filmen, Material sichern und wieder schneiden – während etwa zehn Tagen arbeiteten wir mit wenigen Ausnahmen von morgen früh bis abends spät an unserem Film.

Ergebnis und Fazit

Wir haben sehr viel Herzblut und Zeit in dieses Projekt gesteckt. Uns hat dieses Thema persönlich sehr gefesselt und wir haben viel Zeit in die Reportage investiert. Aus diesen Gründen haben wir auch unserer Qualiltätsansprüche und Ziele hoch gesteckt. Im Grossen und Ganzen sind wir mit unserer Reportage sehr zufrieden. Es ist nach der zehnminütigen Reportage in Berlin das mit Abstand längste Format, das wir eigenständig produziert haben. Selbstverständlich gibt es auch viele Sachen, mit denen wir nicht vollends zufrieden sind und die wir in den nächsten Projekte besser machen wollen.

Was hat gut funktioniert?

  • Die Suche nach Protagonist*innen hat sich als verhältnismässig einfach herausgestellt. Fast alle Protagonist*innen, die wir angefragt haben, haben sich für ein Interview bereit erklärt. Auch das Organisieren der Drehs hat sehr gut geklappt, weil wir grossen Wert auf frühzeitige und genaue Kommunikation gelegt haben.
  • Unsere Zusammenarbeit funktionierte sehr gut und konfliktfrei, obwohl wir uns in den letzten Tagen fast rund um die Uhr gesehen haben. Während der Drehs harmonierten wir dank einer klaren Aufgabenverteilung und konnten uns so voll und ganz auf den Moment konzentrieren. Arbeitstechnisch klappte es mit der Zusammenarbeit beinahe perfekt, weil wir mit einer gemeinsamen Ordnerstruktur Ordnung in unsere Flut an Filmmaterial brachten.
  • Unsere Motivation für diese Reportage war sehr gross. Das Thema hat uns wahnsinnig «geflasht» und viel beschäftigt. Wir blicken nun mit einem völlig neuen Blick auf drogensüchtige Menschen. Wir haben sehr viel Zeit in dieses Projekt investiert. Es hat sich definitiv gelohnt, weil wir bei den Drehs sehr inspiriert wurden und Freude an der Entstehung der Reportage hatten. Im ganzen Prozess haben wir sehr viel gelernt: von produktionstechnischen Details über die Planung von Drehs bis zum zwischenmenschlichen Umgang mit den Protagonisten.
  • Die filmische Qualität unserer Reportage erfüllt weitgehend die an uns selber gerichteten Standards. Die Interviews sind durch das Tageslicht meistens sehr gut belichtet. Bis auf das Gespräch mit Margrith Meier haben wir die Locations für die Interviews sehr bedacht ausgewählt. Während der Interviews haben wir bewusst die Einstellungen gewechselt, damit wir im Schnitt variieren können. Das hat sich bewährt, wie wir finden.

Wo gibt es noch Verbesserungspotential?

  • Bei der Planung der gesamten Reportage gibt es sicherlich noch Luft nach oben. Wir haben uns in dieses Projekt gestürzt, ohne einen konkreten Plan zu haben. Wir hätten uns wohl schon zu Beginn einen gesamten Überblick über die Lage in Chur schaffen können. Allerdings hat unser Vorgehen sicherlich keinen schlechten Einfluss auf das Projekt, weil wir so unserem Interesse gefolgt und das Thema mit dem Wissensstand von Laien angegangen sind.
  • Auch beim Planen der einzelnen Drehs sehen wir noch Verbesserungspotential. Thematisch haben wir uns zwar mit einem Fragenkatalog immer sehr gut auf die Interviews vorbereitet. Allerdings haben wir uns vor den Drehs zu wenige Gedanken gemacht, was wir neben den Interviews für Bilder benötigen. Dieser Umstand hatte zur Folge, dass wir mit einigen Protagonisten Nachdrehs organisieren mussten. Das ist zwar nicht weiter schlimm, hätte ich aber wohl mit einer akribischen Planung verhindert werden können. Weiter haben wir nach den ersten sechs Interviews bemerkt, dass wir fast alle Protagonist*innen im Interview rechts im goldenen Schnitt platziert haben. Zum Glück konnten wir das im Endspurt noch ausgleichen. Für zukünftige Projekte werden wir jedoch viel genauer auf solche filmische Details achten.
  • Zeitmanagement: Erst im Endspurt der Dreharbeiten wurde uns richtig bewusst, wie viel Aufwand es in der Postproduktion geben wird. Wir haben etwas spät mit dem Schnitt begonnen, was jedoch sicherlich auch Corona geschuldet ist, weil wir viele Drehs erst nach den ersten Lockerungen realisieren konnten.
  • Das Storytelling erwies sich als sehr schwierig, da wir mit insgesamt neun Protagonist*innen mit sehr vielen Leuten gedreht haben. So mussten wir alle Protagonist*innen einführen und genau darauf achten, dass der Zuschauer während der Reportage nicht den Faden verliert. Auch gestaltet es sich mit so vielen vorkommenden Personen sehr schwierig, passende Übergänge zu finden und alle einigermassen gleichmässig zu Wort kommen zu lassen. Bei einem nächsten Projekt würden wir wohl mit ein bis zwei Leuten weniger drehen.
  • Das Filmen mit einem Gimbal soll gelernt sein. Am Anfang musste David Lehrgeld bezahlen. Das Einstellen des Gimbals benötigt sehr viel Zeit und wenn man es nicht ganz genau macht, bereut man es während des Drehs. Mit den bewegten Bildern sind wir nicht immer ganz zufrieden, weil sie teilweise etwas wackeln.

Benutztes Material

  • Nikon Z6 mit 24-70mm f4 und 18-300mm f3.5-6.3
  • Sony a7 iii mit 24-70mm f2.8
  • Lavaliermikrofon mit RodeLink-Funkset
  • Lavaliermikrofon fürs Smartphone
  • Zoom H6 Audiorekorder
  • Einbeinstativ iFootage Cobra 2 C180
  • FeiyuTech Gimbal a2000
  • Drohne Mavic Air 

Das Material stammt weitgehend aus unserer internen «WG-Ausleihe», da sich das Ausleihen von Material in der FHGR-Ausleihe gerade bei spontanen Drehs aufgrund der beschränkten Öffnungszeiten als mühsam herausgestellt hat. Herzlichen Dank an Bernhard und Jan!

Keine Kommentare

Schreibe einen Kommentar